Ich habe mir eine Auszeit genommen. Eine Woche verbrachte ich mit meiner Familie in Kiew. Wie ich 31 Stunden lang im Bus saß, um dahin zu gelangen und was ich auf dieser holprigen Reise erlebte, erzählte ich bereits im ersten Part meines Berichts. Auch wenn das Ganze ziemlich erlebnisreich war, lag die beste Zeit noch vor mir. Hier ein kleiner Einblick meiner Impressionen der ukrainischen Hauptstadt, die ich über sieben Tage hinweg in mich aufsog.

Ungeahnte Tiefen

Nachdem ich endlich am Busbahnhof in Kiew ankam, mit Pauken und Trompeten begrüßt, überaus gemässtet und gut gebettet wurde, konnte am nächsten Morgen der richtige Urlaub beginnen. Unsere Unterkunft befand sich in Darniza, einem Stadtteil in dem die Durchschnittsbevölkerung wohnt und dessen Architektur stark von 11 bis 25 stöckigen Plattenbau – Hochhäusern bestimmt ist. Wir fuhren jeden Tag mit der U-Bahn in die Innenstadt, die für uns, ohne dass wir es ahnten, die erste Sehenswürdigkeit bereit hielt. Unser Umstiegspunkt war die Haltestelle „Arsenalna“. Sie liegt 105,5 Meter unter der Erdoberfläche und hält damit den Rekord für die tiefste Metrostation der Welt. Insgesamt sechs Minuten dauert der Aufstieg auf zwei Rolltreppen, die so lang und steil sind, dass man zu Beginn das andere Ende nicht sehen kann. Ich fühlte mich wie ein Bergarbeiter, der nach einem harten Arbeitstag wieder versucht das Sonnenlicht zu erreichen.

Oh my god

Diese extrem tiefe Metrostation war erst der Anfang. Schnell musste ich feststellen, dass Kiew durch seine riesigen Ausmaße überzeugt. Das beste Beispiel dafür ist das Höhlenkloster Kyevo – Pecherska Lavra. Das Gelände der Klosteranlage ist so groß, dass es fast einem eigenen kleinen Dorf gleicht. Es umfasst zahlreiche Kirchen und Kloster, die mit ihren goldenen Kuppeln aus der hügeligen Umgebung herausragen und bereits aus Kilometern Entfernung ins Auge fallen. Unterhalb befinden sich Katakomben in denen mehrere Reliquen liegen. Auf dem Gelände lungern überall Nonnen, die an kleinen Buden geweihtes Wasser, Anhänger mit Namensheiligen und selbstgebackene Köstlichkeiten verkaufen.  Als ich eine von ihnen dabei fotografierte wie sie himmlisch aussehende Zimtschnecken an den Mann brachte, wurde ich von einer ihrer Schwestern ordentlich zurecht gewiesen. Danach ließ sie mich mit argwöhnischem Gesichtsausdruck nicht aus den Augen. Der Zorn Gottes im Eintausch gegen ein nettes Fotos schien mir ein nicht so guter Deal zu sein, also passte ich zukünftig auf.

Der Ausblick von der Kyevo-Pecherska Lavra: goldene Kuppeln und der Dnjepr.
Foto: © Kristina Schwan I [030]

Das verbotene Foto: eine Nonne und ihre lukrativen Zimtschnecken.
Foto: Kristina Schwan I [030]

Hoch hinaus

Während unserer Ausflüge durch die Stadt fand ich heraus, dass das Höhlenkloster  ein absolutes Paradebeispiel vieler weiterer Kiewer Gotteshäuser ist. Der orthodoxe Glaube ist in der Ukraine die meistvertretene Religion und als ob sich die stark gläubige Bevölkerung dachte: „Sicher ist sicher!“, steckten sie über die Jahre hinweg überall wo noch Platz war eine prächtige Kirche hin. Wer also auf diese monumentalen Bauwerke steht, ist dort mehr als bedient. Apropos monumental: nicht weit von der Kyevo – Pecherska Lavra entfernt befindet sich die größte Frauenskulptur der Welt, die „Rodina Matj“ (Mutter-Heimat-Statue).  Mit 102 Metern Höhe ist sie im internationalen Größen-Rennen aller Plastiken „nur“ unter den Top Ten,  dennoch reicht „imposant“ nicht annähernd aus, um ihren Anblick zu beschreiben.  Je näher wir der Statue kamen, desto kleiner fühlte ich mich. Ebenfalls auf einem Hügel gelegen, wacht sie tatsächlich wie eine mächtige Mutter, mit einem gehobenen Schwert in der einen und einem Schild in der anderen Hand, über die Stadt.

Die Mutter-Heimat-Statue neben dem Höhlenkloster.
Foto: © Kristina Schwan I [030]

Ein Relikt aus der Sowjetunion: Soldatendenkmal vor der Mutter- Heimat-Statue.
Foto: Kristina Schwan I [030]

Make a wish

Schonmal dem eigenen Glück nachgeholfen? Die Ukrainer lassen sich da anscheinend keine Chance entgehen. An fast jeder Sehenswürdigkeit, die wir besichtigten, gab es etwas, womit man dem eigenen Schicksal einen kleinen Arschtritt verpassen konnte. Mit „etwas“ meine ich Wunschbäume, an die Bänder gehängt, Brunnen, in die Münzen geworfen und Bronzestatuen, die an den unsittlichsten Bereichen angefasst wurden. Ich habe in dieser Woche so viele metallene Nasen, Brüste und Bäume begrabscht, dass ich mittlerweile cocktailschlürfend auf einer eigenen Karibischen Insel mit meiner einzig wahren Liebe liegen müsste. Ewige Jugend und Gesundheit für mich und meine Familie gibt es natürlich oben drauf. Als ich einmal darüber nachgedachte wie viele Menschen täglich diese Stellen der Statuen anfassen, hob ich meine Hand mit den Worten: “ Wer will eine Krankheit for free?“. Drei Tage später war ich selbst erkältet – so spielt wohl das Leben.

Bunte Wünsche an den Ästen.
Foto: © Kristina Schwan / [030]

Alice im Hinterhof

Das Angebot an Parkanlagen in Kiew ist riesig. Zu sehen gibt es dort von schönen Grünanlagen, über oben erwähnte Bronzefiguren, bis hin zu militärischer Ausrüstung und Waffen eigentlich alles. Doch ein Park war, sagen wir mal, ein bisschen „anders“. Auf Anraten von Tripadvisor bewegten wir uns zur „Landscape Alley“. Dabei handelt es sich um einen Ort, an dem viele abgedrehte Figuren stehen, mit denen man sich fotografieren kann. Für sowas ist meine Familie Feuer und Flamme, denn bei uns herrscht das Gesetzt: „Gibt es kein Foto, ist es nicht passiert.“ Durch einen Bogen gelangten wir von einem Innenhof mit furchtbarem Fischgeruch in einen weiteren Hinterhof mit Spielplatz.  Ich weiß nicht wer für das Design verantwortlich ist, aber ich bin mir sicher, dass LSD hier  eine entscheidende Rolle spielte. Das Ding bestand aus einer riesigen, leicht debil schauende Alice, einer Teetasse und einer Grinsekatze. Von dort aus war die komplette Straße entlang voll mit weiteren seltsamen Figuren, in deren Münder man sich reinsetzen konnte. Obwohl das Ganze einer glitzernden, bunten Fantasie glich, will ich gar nicht wissen wie viele Kinder sich schon Köpfe ein-, Zähne aus- und Zehen angeschlagen haben.

Ein wilder Acid-Trip im Hinterhof.
Foto: © Kristina Schwan I [030]

Keine Mushrooms mehr für dich, Alice.
Foto: © Kristina Schwan I [030]

Changes

Wurde in den letzten Jahren über die Ukraine in unseren Medien berichtet, so waren die Schlagzeilen leider vorrangig negativ. 2013 resultieren auf dem Maidan Demonstrationen in blutigen Revolten, die mehrere Menschenleben fordern. Der komplette Platz um das Unabhängigkeitsdenkmal stand in Flammen. Ich fragte mich vor meiner Reise, ob fast sechs Jahre später die Nachfolgen der damaligen Ausschreitungen noch spürbar sind. Trotz der langen Zeitraums kein abwegiger Gedanke, immerhin dauert in den östlichen Regionen  des Landes bis heute ein Bürgerkrieg an. Wir reden hier vom einzigen Kriegsgebiet Europas. Die Antwort auf meine Frage ist jedoch ein eindeutiges „Nein“. Der gesamte Maidan ist wieder tourifreundlich gestaltet, die umliegenden Gebäude wurden renoviert, überall neue Bäume und Blumen gepflanzt. Das einzige, was noch an die Geschehnisse erinnert, sind aufgestellte Fotografien der vermeintlichen Helden und die blau-gelben Bändchen, die überall als „Andenken an die Gefallenen“ zum Verkauf stehen. Selbst aus Tragödien lässt sich Geld schaufeln. Auf dem Kreschatik, einem großen Boulevard, der am Maidan vorbeiführt, spürt man das „gute Leben“. Keine Anzeichen von Armut, oder den Ereignissen der letzten Jahre. Die sechsspurige Straße wird an Wochenend – und Feiertagen sogar abgesperrt, damit die Bevölkerung unbeschwert flanieren gehen kann.

Maidan, Kiew, Ukraine, Konflikt

Der Maidan wieder tourifreundlich.
Foto: © Kristina Schwan I [030]

Geknüpfte Bänder in den Nationalfarben.
Foto: © Kristina Schwan I [030]

Das Beste kommt zum Schluss

Da wir einmal beim „guten Leben“ sind – wenn ich mich auf etwas so richtig gefreut habe, dann auf die schönste Sache der Welt: food. Zunächst bedeutet Familienurlaub immer Unmengen an unfassbar gutem Essen. Fast täglich bestand unser Abendbrot aus gegrilltem Schaschlik, koreanischem Möhrensalat (der eigentlich russisch ist), eingelegtem Gemüse, gedämpftem Kohl, Törtchen und, wie soll es auch anders sein, (Cranberry)- Wodka. Regelmäßig kauften wir hierfür frische Lebensmittel auf den Märkten oder Straßen. An den Gehwegen sitzen oftmals Omas, die im eigenen Beet angepflanztes Gemüse, Blumen und gesammeltes Obst für Spotpreise anbieten. Bei einer monatlichen Mindestrente von gerademal 60Euro, bleibt ihnen nicht wirklich eine Wahl. In der Innenstadt boomt das Angebot an diversen Restaurants, Bistros und Straßenständen. Besonders beliebt ist die Kette „Pusata Hata“, zu Deutsch „bauchige Hütte“, die wie eine Kantine aufgebaut ist und günstige, regionale Hausmannskost anbietet. Dank der vielfältigen Auswahl an Salaten, Suppen, Fleischgerichten, Pelmeni, Blinis und Desserts, ist für jeden Geschmack was dabei. Den Genuß der „Kiewer Torte“ hebten wir uns jedoch für unseren letzten Abend auf. Hierbei handelt es sich um eine süße Spezialität aus einem feinen Mürbeteigboden und nussigem Baiser. Erworben haben wir sie bewusst bei dem No.1 ukrainischen Süßwarenhersteller „Roshen“, dessen Eigentümer der ehemalige Präsident Petro Poroschenko ist.

Ein typisch ukrainischer Tisch. Fehlen nur noch Schwarzbrot und Speck.
Foto: © Kristina Schwan I 030

Abschied

Vieles von dem was wir in den sieben Tagen erlebten sprengt den Rahmen dieses Berichtes und bleibt unerzählt. Doch eins wurde hoffentlich deutlich: Kiew ist voll mit  interessanten Sehenswürdigkeiten, faszinierenden Orten und atemberaubenden Landschaften. Durch die vielen Hügel bekommt man die Stadt oft von oben zu sehen, was uns jedes Mal einen Ausblick auf die vielseitige Architektur bescherte. Bei den Ausflügen erhielten wir einen Hauch Historie und gleichzeitig standen wir vor Wolkenkratzern und absurden Skulpturen (ein Gruß geht raus an Alice!). Ich sah sowohl die Armut eines Landes, welches sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bis heute nicht ganz erholt hat, als auch einen Stadtkern der voller Vitalität zu wachsen scheint. Eine Zeit des Umbruchs ist vielerorts spürbar. Übersättigt von diesen vielen Eindrücken und mit einem geschenkten Selbstgebrannten im Gepäck, stieg ich in den Flixbus zurück nach Berlin. Ich werde auf jeden Fall wiederkommen.

Hier geht’s zum Part 1.