Ich habe mir eine Auszeit genommen. Eine Woche verbrachte ich mit meiner Familie in Kiew. Aber vorher musste ich irgendwie dorthin gelangen. Getreu dem massochistischen Motto: „Wieso einfach, wenn es auch umständlich geht?“, fuhr ich also mit dem Reisebus. Hier nun der holprige Beginn meiner Reise. 

Ukraines Bad Reputation

Zugegeben, die Ukraine ist ganz eindeutig kein typisches Reiseziel, welches massenweise europäische Touristen anzieht. Noch nie habe ich gehört, dass jemand seinen wohlverdienten Urlaub in einem Land der ehemaligen Sowjetunion verbringen möchte. Eine Woche All-inclusive auf Malle ist da schon um einiges entspannender. Heutzutage schwelgten nur noch die Leute, die in der DDR aufwuchsen und aus deren Poren bis dato das Wort „Freundschaft“ trieft, von ihren Abschlussfahrten in die Großstädte der Ukraine. In den übrigen westlichen Köpfen steckt das Bild von hässlichen Hochhäusern, hinterwäldlerischen Kuhkäffern, und vor allem der Ereignisse der letzten sechs Jahre: Ausschreitungen auf dem Maidan und ein weiterhin andauernder Bürgerkrieg in den östlichen Regionen. Ich entschied mich dennoch nach Kiew zu fahren. Mein Intention die Hauptstadt des Landes zu besuchen, war nicht die Lust nach Abenteuern, sondern das, was auf Visaanträgen mit dem vornehmen Wort „Familienzusammenführung“ betitelt wird.

Sauna auf vier Rädern

Für die Reise entschied ich mich für den günstigsten und gleichzeitig umweltfreundlichsten Weg: den Bus. Als ich letztendlich vor der Abfahrt an meinem Platz saß und die ächzende Oma hinter mir über Lautsprecher mit ihrer Tochter telefonierte, wurde mir schlagartig bewusst auf was ich mich da eingelassen habe. Circa 1300 Kilometer, laut Ticket 22 Stunden eingequetscht auf einem kleinen Sitz. Und Halleluja, wenn die Klimaanlage ausfällt (was nicht selten passiert) verwandelt sich das Ganze in eine Sauna auf vier Räder aus der es kein Entrinnen gibt. In dem Sinne: Gute Fahrt! Die ersten elf Stunden lief alles überraschend gut. Klimaanlage läuft, WLAN funktioniert, mein Sitznachbar schnarcht nicht und es gibt keine schreienden Kinder an Bord. Doch dann kam das, wovor es mir die gesamte Zeit schon grauste: Border control zwischen Polen und der Ukraine. Niemand weiß wie lange diese Prozedur dauert. Wir standen. Ewigkeiten. Der Motor war aus und es gab keine Luft zu atmen.

Sehr viel Abneigung gegenüber einem kleinen Schild. – Foto: © Kristina Schwan

Sonnenblumenkerne und Instantkaffee

Die Leute verließen den Bus, um zwischen den wartenden Fahrzeugen mitten auf der Autobahn Zigaretten in Kette zu rauchen und Smalltalk zu halten. Zwei Franzosen breiteten auf dem Asphalt ihre Isomatten aus und nutzen die Gelegenheit liegen zu können. Als ich ebenfalls draußen rumstand wie bestellt und nicht abgeholt fiel mir etwas ins Auge. Am Rand der Straße lagen massenweise Schalen von Sonnenblumenkernen. Das Indiz schlechthin, dass ich mich in Osteuropa befand. In den meisten slawischen Ländern sind die Dinger der Snack No.1. Wie in Trance wird ein kleiner Kern nach dem anderen aus seiner Hülle geholt. Die Reste bleiben überall liegen. Vor Hauseingängen, neben Parkbänken und anscheinend auch an Grenzübergängen. Die Busfahrer entschieden sich kurz darauf unsere geplagten Gemüter durch kleine Plastikbecher mit Instantkaffee und schwarzen Tee mit Zucker zu besänftigen. Bei 30 Grad Außen- und gefühlten 45 Grad Innentemperatur hätte ich lieber eine eiskalte Limonade in der Hand gehalten und doch freuten sich alle über die Bewirtung.

Semetschki aka. Sonneblumenkerne, wie man sie auf dem Makt kaufen kann – geröstet und in Zeitungspapier verpackt. – Foto: © Kristina Schwan

Ach, Viktor.

Ihr dürft mir gratulieren. Der Preis für den längsten Aufenthalt an der Grenze geht eindeutig an mich. Acht Stunden brauchten wir insgesamt für einen Weg von nicht mal einem Kilometer. Während der langen Wartezeit lernte ich meinen Sitznachbarn Viktor kennen. Ich wollte eigentlich einfach nur so viele Stunden wie möglich verschlafen, aber nachdem ein einziger Satz zwischen uns gefallen ist, sprudelten die Informationen aus ihm wie Kohlensäure aus einem Sodastream. Kopfhörer als „Bitte-Nicht-Ansprechen“-Zeichen wurden eiskalt ignoriert. Er redete über Poltik, Korruption, Arbeitslosigkeit, Familienkonflikte und sein neues Elektrofahrrad. Regelmäßig fährt er wie viele Leute in dem Bus nach Deutschland, um zu arbeiten.

„Du glaubst nicht wie sehr ich nicht zurück möchte! Jeder gefahrene Meter macht mich traurig. In Hannover arbeite ich auf dem Bau, als Möbelschlepper, als Busfahrer, mal legal, mal schwarz – hier gibt es nichts zu tun, gar nichts.“, sagt er niedergeschlagen.

Er kann nicht mehr zählen wie oft er die Grenze für solche Gelegenheitsjobs passierte, doch eins versicherte er mir: noch NIE dauerte dieser Vorgang auch nur annähernd so lange wie dieses Mal. Da konnte ich mich ja richtig glücklich schätzen, Teil dieser absoluten Ausnahmesituation sein zu dürfen.

Patchwork Landscape

Kaum waren wir auf ukrainischem Gebiet veränderten sich die Straßen. Sie wurden holpriger und staubiger. Wir fuhren vorbei an unendlichen Steppenlandschaften, aus denen hier und da ein kleines Dorf hervorragte. Manche sehen aus, als ob sie in  einer längst vergangenen Zeit stecken geblieben sind.  Kühe, Ziegen, Pferde und Gänse grasten an den Straßenrändern. Eine Besonderheit: jedes Dorf, egal wie klein und heruntergekommen es ist, besitzt eine eigene Kirche. Mit ihren goldenen Kuppeln und prächtigen Verzierungen bilden diese einen extremen Kontrast zu der restlichen Umgebung. Zwischendurch sah ich bunte Gaststädten, die Schlössern, oder Villen ähneln sollen. Neben den verlassenen Tankstellen erinnern sie jedoch mehr an Requisiten, die beim nächsten Lufthauch umfallen könnten. Und überall die ukrainische Flagge. Gebäude, Bänke, Zäune, selbst die offenen Trainingsgeräte, vor denen junge Männer Schlange stehen, sind in blau und gelb gestrichen.

Hauptsache das Gotteshaus funkelt. – Foto: © Kristina Schwan

To Be Continued

Kurz vor Mitternacht kamen wir Kiew näher. Nachdem einige Passagiere in Riwne, Lwiw und Schytomyr ausstiegen, war der Bus fast leer, doch anstatt auf einen anderen Sitz zu wechseln, blieb Viktor tapfer an meiner Seite. Das Ortseingangsschild gepaart mit der Nachricht meiner Mutter: „Wir warten auf dich. Der Wodka steht schon kühl und das Essen ist im Ofen.“, ließ mein Herz höher schlagen. Meine Liebsten, ein Bett und ein gut gedeckter Tisch waren nicht mehr weit. 31 Stunden dauerte insgesamt meine Fahrt. Das was in der kommenden Woche folgte, war dennoch jeden zurückgelegten Kilometer wert. Aber seht selbst im Reisebericht No.2.