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Überall in Deutschland bilden sich derzeit Gruppen für ehrenamtliche Flüchtlingshilfe. Visioneers e.V. ist eine solche Initiative aus Berlin. Seit 2015 bietet der Verein in Schöneberg Projekte für geflüchtete Jugendliche an – von wöchentlichen Sprachkursen und Hausaufgabenhilfen bis hin zu Nähworkshops. Begleitung zum Arzt und seelischer Beistand gehören für die Freiwilligen Helfer ebenso sehr dazu,. Eine der Helferinnen ist Julia Schmidt, die uns einlud, Visioneers näher kennenzulernen. Ein Erfahrungsbericht.


Mittwoch, kurz vor zwei. Ich betrete das Café Connection. Visioneers e.V. veranstaltet hier einen Kreativnachmittag mit Anwohnern. Heißt konkret: Alle sind eingeladen, mit geflüchteten Jugendlichen zu kochen und Federmäppchen zu nähen. Mein erster Gedanke: Super Sache. Mein zweiter: Als ob ich nähen kann. Kaum angekommen fühle ich mich ziemlich unvorbereitet: Ich weiß weder, wo die Jugendlichen genau herkommen, noch fühle ich mich über ihre Situation ausreichend informiert. Schon fängt mich Julia ab. »Total unbürokratisch hier!«, lacht sie. »Wirste schon sehen!«

Die Frau, über die hier das Meiste läuft: Julia Schmidt

Die Frau, über die das Meiste hier läuft: Julia Schmidt

Spielerische Integration

Julia bietet mir einen Platz an. »Ich bin auch ganz unvorbereitet reingerutscht und habe dann einfach angepackt!«, erzählt sie. Eigentlich ist sie DIY-Bloggerin. Dann kontaktierte sie Visioneers – ein Verein, der eigentlich Corporate Volunteering anbietet, sprich: Unternehmen werden aufgerufen, Projekte mit Spenden oder Helfern zu unterstützen. Julias Nähwerkstatt und der Hausaufgabenclub sind inzwischen zur Basis geworden. »Anfang Dezember hieß es: Wir haben unbegleitete Jugendliche, wir machen jetzt mal einen Workshop. Ich also hin da. 36 Jugendliche. Alle waren seit einer Woche hier. Keiner sprach ein einziges Wort Deutsch. Ich saß da allein als Frau mit einem Hund. Die hatten Angst!«

Von Angst ist inzwischen nichts mehr zu spüren. Im 5-Minuten-Takt kommen rund 15 gut gelaunte Jugendliche ins Café spaziert. Die  meisten von ihnen sind Afghanen, die in dem Verein eine neue Familie gefunden haben. »Ich fühle mich, als hätte ich ganz viele Kinder.«, sagt die 29-Jährige. »Hier sind Jungs, die wochenlang jeden Tag bei mir zu Hause saßen.« Als ich nach den Betreuern frage, winkt Julia ab. »Zwei für 200 Jungs. Kannste vergessen. Ich gehe mit denen zum Arzt. Macht sonst niemand. Die schreiben mir per WhatsApp, wenn es Probleme gibt.« Und ihre Motivation? Julia lächelt: »Man muss zeigen, dass sie sich normal verhalten und nicht die sind, die im Schwimmbad Mädchen anfassen. Hier kriegen sie spielerisch Zugang zu Kultur und Sprache – und sei es, indem sie einen Flickenteppich basteln. Inzwischen sind sie besser in der Schule als alle anderen. Das ist für mich Integration!«

Flickenteppich, der in Zusammenarbeit entstanden ist

Viele Flicken, noch mehr Identitäten

Ein Geben und Nehmen

Schon werden wir zum Essen gerufen. Jede Woche kocht jemand anderes. Heute gibt es Türkisch – ausnahmsweise vegetarisch. Neben den Jungs sind allerlei internationale Helfer da. Zusammen sitzen Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Viele von ihnen teilen das gleiche Schicksal – wurden von der Taliban ausgepeitscht oder haben ihre Eltern auf dem Weg nach Deutschland verloren. Dennoch schaue ich in lachende Gesichter. Als ich abräumen will, hält mich Julia ab: »Die machen das schon. Mach du dich zum Nähen bereit!«

Mache ich natürlich nicht. Statt zu nähen tue ich mich mit Amir* zusammen. Der ist mit seinem Freund Nadim* zum ersten Mal da und steht genauso unbeholfen rum. Amir erzählt mir, dass er vor acht Monaten aus Syrien kam. Er ist Friseur in Neukölln und wohnt in einer Unterkunft an der Krummen Lanke. Schön sei es dort, lieber würde er allerdings alleine wohnen. Genug Geld habe er, trotzdem bekomme er keine Wohnung. Julia schickt mich weiter zu Nadim, der beim Nähen des Federmäppchens helfen soll. »Die meisten können nicht nähen. Dafür wissen die Jungs, wie es läuft. Du hilfst, indem du deutsch redest, und sie dir beim Nähen. So können sie aktiv werden und eine Rolle anzunehmen, in der sie keine Hilfe brauchen!« Also nähe ich doch los.

Jeder hilft jedem

Jeder hilft jedem: Der Nähworkshop

Und was bleibt?

Eine Stunde nach Ankunft bin ich kein Neuling mehr: Je länger ich da bin, desto mehr komme ich ins Gespräch und Nadim dank meiner fehlenden Nähkünste nicht mehr aus dem Lachen raus. Ein High Five kriege ich trotzdem, weshalb ich ihn wiederum ziemlich witzig finde. Auf dem Heimweg gehe ich alle Eindrücke durch. Eins ist mir schon jetzt bewusst: Nie zuvor habe ich so viele offenherzige Menschen auf einmal angetroffen. Herkunft, Religion, Sprache – nichts davon war wichtig. Menschen helfen Menschen. Ob ich wiederkomme? Auf jeden Fall.

*Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.


Der Visioneers-Homework Club
Jeden Freitag von 15:30 bis 17:00 Uhr
Café Connection