Nach 18 Jahren auf dem Chefsessel, musste im Vorjahr der nicht selten gescholtene, gleichwohl erfolgreiche Berlinale-Direktor Dieter Kosslick unfreiwillig das Feld räumen. Als Nachfolger für die Leitung des weltweit größten Publikumsfestivals wurde ein Doppelspitze berufen. Der einstige Locarno-Chef Carlo Chatrion, 48, übernimmt die künstlerische Auswahl, die ehemaligen Film-Lobbyistin Mariette Rissenbeek, 64, kümmert sich als kaufmännische Geschäftsführerin um Finanzen und Organisation.
Der Wegfall von Kinos und Sponsoren hat ihr einen arbeitsreichen Einstieg beschert. Was zum 70. Jubiläum der Berlinale (vom 20. Februar bis 1.März) auf dem Programm steht und welche Neuerungen es geben wird, erzählt das italienisch-niederländische Führungsduo im Interview.
Signor Chatrian, beim Festival Locarno waren Sie ein unumstrittener Direktor. Sie lebten mit der Familie in einem idyllischen Bergdorf – warum tun Sie sich den Moloch Berlin an? Welchen Reiz hat ein Roter Teppich mit Eis?
Chatrian: Ich mag die Veränderung, das Leben wird durch Wandel schließlich interessanter. Man mag bestimmte Dinge verlieren, dafür gewinnt man anderes hinzu. Mir gefällt es sehr gut in Berlin. Das ist eine vibrierende Stadt mit großartigen Möglichkeiten und Angeboten. Meiner Familie gefällt es hier ebenfalls, allerdings lebt sie aktuell noch in Italien, weil die Kinder dort zur Schule gehen und meine Frau ihren Beruf hat.
Welche Qualitäten sind die wichtigsten für den Berlinale Chef-Sessel?
Chatrian: Neugierde gehört gewiss zu den wichtigsten Qualitäten, nicht nur für Berlinale-Direktoren, sondern für jeden Beruf und für das Leben ganz allgemein.
Rissenbeek: Neugierde auf alle Fälle, zudem ist Vielseitigkeit gefragt. Neben dem Publikumsprogramm gehören zum Festival Branchenveranstaltungen wie die Berlinale Talents, der Europäische Filmmarkt oder der World Cinema Fund. Meine Erfahrungen mit Weltvertrieb, Produktion oder Verleih erweisen sich dabei als sehr hilfreich.
Neue Besen kehren gut. Was, außer dem Kulinarischen Kino und Anke Engelke haben Sie vom Erbe Ihres Vorgängers entrümpelt? Was werden die revolutionären Neuerungen sein?
Chatrian: Die Menschen halten gerne Ausschau nach Revolutionärem, doch die meisten wirkungsvollen Revolutionen passieren im Stillen und ohne großes Feuerwerk. Als wichtige Neuerung wird es einen zweiten Wettbewerb geben. Wobei wir das großartige Erbe der Berlinale zum 70sten Jubiläum ja nicht über Bord werfen. Ich lade die Besucher ein, im gesamten Programm ihre kulinarischen Filme zu entdecken.
Rissenbeek: Neu ist der Wegfall der Kategorie „Außer Konkurrenz“, den wir als schwierigen Begriff empfanden. Stattdessen wird es die „Berlinale Special Galas“ geben für Filme, die nicht im den Wettbewerb spielen, gleichwohl aber eine bestimmte Größe haben.
Sind Sie als Doppelspitze gleichberechtigt?
Rissenbeek: Wir haben ja unterschiedliche Aufgaben, Carlo kümmert sich um die künstlerische Seite der Filmauswahl, ich konzentriere mich auf die organisatorischen und finanziellen Aspekte. Wir führen regelmäßige Gespräche über den künftigen Kurs des Festivals und welche Schwerpunkte wir gemeinsam setzen wollen. Bislang kommen wir beide gut miteinander klar.
Hat die Berlinale mit einer Frau in Führungsposition ein Alleinstellungsmerkmal unter den 15 großen, sogenannten A-Festivals?
Rissenbeek: Ich bin zum Glück nicht einzigartig. (Lacht) Locarno hat gerade als Nachfolge für Carlo eine neue künstlerische Leiterin bekommen, in Shanghai gibt es das bereits seit Längerem. Auch in Toronto ist die Doppelspitze weiblich und männlich besetzt.
Wer springt zum 70sten Berlinale-Jubiläum aus der Torte? Wie wird Geburtstag gefeiert?
Chatrian: Geplant ist eine Reihe mit dem Titel „On Transmission“. Dabei werden sieben Regisseure, die in der Vergangenheit Berlinale-Erfolge feierten, zum Festival zurückkehren und dazu je einen Filmemacher oder eine Filmemacherin ihrer Wahl mitbringen. Beide werden ihre Werke vorstellen und anschließend mit dem Publikum darüber reden.
Rissenbeek: Im Vorfeld planen wir als warm-up gemeinsame Abende mit Institutionen wie der Berliner Philharmonie, der Volksbühne oder dem Maxim Gorki-Theater. Zudem gibt es eine Kooperation mit der Berliner Stadtreinigung, um auf das Thema Nachhaltigkeit hinzuweisen – was für die Berlinale in den letzten Jahren schon immer eine wichtige Rolle spielte.
Ihr Vorgänger Dieter Kosslick hat in 18 Jahren ein umfangreiches Netzwerk aufgebaut. Hat er Ihnen die Handy-Nummer von Brad Pitt, Meryl Streep und George Clooney überlassen? Oder besitzen Sie längst die selbst?
Chatrian: Ich besitze bereits einige Handy-Nummern von Stars. Viel wichtiger sind allerdings die Telefonnummern der Agenten, letztlich treffen sie die Entscheidungen über die Pläne der Künstler. Mit Agenten verbindet uns eine langjährige Zusammenarbeit, ich bin zuversichtlich, dem Berlinale-Publikum ein Spektrum hochkarätiger Schauspieler zu bieten, von denen es träumen kann.
„Fridays for Future“ bewegt die Welt. Bewegt das auch die Berlinale?
Chatrian: Kino handelt vom Zustand der Welt. Und wir zeigen Filme, die wichtige Themen aufgreifen. Aber das ist nicht das ausschlaggebende Kriterium unserer Auswahl, Der entscheidende Maßstab liegt darin, eine gute Geschichte filmisch gut zu erzählen. Diese Geschichte kann Anstöße geben und das Publikum zum Nachdenken über den Zustand der Welt anregen.
Was beschäftigt die Bären-Kandidaten anno 2020. Braucht ein Festival den roten Faden?
Chatrian: Ein roter Faden ist wichtig für ein Festival, darüber mache ich mir jedoch erst Gedanken, wenn die Auswahl der Filme feststeht. Ich möchte die Filme nach ihrer Qualität aussuchen und nicht danach, ob sie ein bestimmtes Thema behandeln.
Ist Weltpremiere-Exklusivität für den Wettbewerb noch zeitgemäß? Sollte man sich nicht am Füllhorn guter Filme bedienen, die etwa im Januar beim Sundance-Festival gezeigt werden?
Chatrian: Die Regel für den Wettbewerb lautete schon bislang internationale oder Welt- Premiere. Entscheidend für mich ist allein die Qualität eines Films. Wenn er in seinem Ursprungsland im Kino oder auf einem Festival bereits gelaufen ist, habe ich kein Problem damit, ihn einzuladen. Ein Film für die Berlinale muss frisch sein für unser Publikum. Und noch wichtiger: Er muss gut sein!
Cannes blockiert Netflix im Wettbewerb. Venedig hat die Dämme geöffnet. In Toronto, Zürich oder London spielte das Thema schon gar keine Rolle mehr. Was macht Berlin?
Rissenbeek: Für die Berlinale gilt wie bisher die Regel, dass ein Film im Wettbewerb eine Kinoauswertung benötigt. Außerhalb des Wettbewerbs wird es Einzelentscheidungen geben.
Mit dem zum Jahresende geschlossenen Cinestar-Kino im Sony-Center bricht dem Festival ein wichtiger Spielort. Haben Sie Alternativen gefunden? Was passiert in zwei Jahren, wenn auch der Vertrag mit dem als Berlinale-Palast genutzten Musical-Theater am Potsdamer Platz abläuft?
Rissenbeek: Die bisherigen Publikumsvorstellungen im Cinestar werden wir in das Cubix-Kino am Alexanderplatz verlegen. Der Nachmieter im Musical-Theater ist Cirque du Soleil, von dem uns Gesprächsbereitschaft signalisiert wurde. Konkrete Verhandlungen über neue Laufzeiten gibt es noch nicht. Mein Eindruck ist, dass Cirque du Soleil interessiert ist, eine kulturelle Veranstaltung wie die Berlinale mit an diesem Platz zu haben, weil damit die Aufmerksamkeit auf die eigenen Aktivitäten gesteigert wird. Im Moment bin ich noch nicht beunruhigt.
Weshalb sind Jury-Sitzungen ein Geheimniskrämerei-Theater wie die Papst-Wahl? Wäre Transparenz mit einer öffentlichen Sitzung kein bäriger Bonus für das Publikum?
Chatrian: Dann ginge ja die Spannung verloren, wer am Abend der Preisverleihung einen Bären bekommt!
Worin besteht der Sinn von einem Filmfestival – in drei Sätzen
Chatrian: Filmfestivals sind Treffpunkte, das ist ihre wichtigste Aufgabe. Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen kommen zusammen. Künstler treffen das Publikum und die Presse. Die ganze Branche begegnet sich hier – das macht die Berlinale großartig.
Schlapphut und roter Schal wurden bei Ihrem Vorgänger Dieter Kosslick zum Markenzeichen. Wie wappnen Sie sich für das Warten am kalten Teppich?
Chatrian: Ich hoffe, ich benötige kein Markenzeichen.