Der Dancehall scheint sich gerade allgegenwärtig einzuschleichen. In den Staaten klingt er im R'n'B Sound von Drake und Rihanna an, die Grime Welle aus dem Vereinigten Königreich ist stark aus der Karibik beeinflusst und verwendet den entsprechenden Jargon und auch in Deutschland taucht dieser nebulöse Genrebegriff in letzter Zeit immer häufiger auf.
Das jüngste und zugleich prominenteste Beispiel stellte Palmen aus Plastik dar, das Kollabo-Album von Bonez MC und RAF Camora. Aber nicht nur diese lange jamaikaaffinen Deutschrap-Vertreter, auch Kaas kooperierte mit dem Stuttgarter Sound System Jugglerz für eine EP, die langjährige Koryphäe des deutschen Dancehall TRETTMANN gewann zusammen mit dem audiovisuellen Motor KitschKrieg nie gekannte Popularität und sogar den Refrain der großen Comeback-Single der Beginner durfte Gentleman auf Patois singen. Dessen ehemalige Weggefährten Silly Walks Discotheque haben im Übrigen in den vergangen Jahren so manchen Hit für die Wiege des Genres Jamaika produziert. Als prominenteste Beispiele sind hier Chronixx' „Smile Jamaica“ und „Dreams of brighter days“ von Busy Signal zu nennen. Die Neigung zum Offbeat ist also in Deutschland schon eine Weile vorhanden, wird aber aktuell verstärkt von Künstlern propagiert, die nicht so szeneintern stattfinden wie TRETTMANN und nicht so radioverschrien sind wie Seeed, nämlich aus der Mitte der populären Deutschrad-Szene.
Ronny who?
Szeneinterna wie TRETTMANN, Miwata oder der Schweizer Stereo Luchs leben ein Nischendasein. Nicht nur war Dancehall in Deutschland nie die populärste Musikrichtung, die entsprechenden Partyreihen und Festivals überleben auch zum größten Teil durch karibische Einwanderer, die die Hits von der Insel hören wollen und sich nicht jeden Tag auf Soundcloud herumtreiben. Als TRETTMANN dieses Jahr im Rahmen des Karneval der Kulturen im Yaam! In Berlin seinen Klassiker „Sie kanns nicht erwarten“ performte, eine sinngemäße Übersetzung eines Demarco-chune, freuten sich geschätze drei white boys, während der Rest sich wunderte, welch merkwürdiger Text da über den "Stress Free Riddim" gesungen wurde oder einfach die ursprünglichen Lyrics grölte. Der Versuch, die Dancehall-Szene an deutsche Texte zu gewöhnen muss also nach knapp 10 Jahren seit „Der Sommer ist für alle da!“ (Ronny Trettmanns Debüt-Single) als weitestgehend gescheitert bilanziert werden.
Going back to Kingston
Eine neue Herangehensweise scheint jetzt erfolgreicher zu sein: Die Deutschrap-Szene an den Dancehall Sound gewöhnen. Das können die 187er und RAF Camora noch aus einem weiteren Grund besonders überzeugend: Sie teilen mit den Artists aus Kingston, Jamaika etwas, das TRETTMANN oder Kaas fehlt und ein elementarer Teil des Dancehall Universums ist: Die Skreet [sic!] Credibility. RAF und Bonez können auf Grund ihres Straßenrap-Hintergrunds ihr übliches Textkonzept problemlos weiterfahren, während Kaas auf dem sozialkritischen „Jamaica Jamaica“ eher den orientalistischen Reporter mimen muss. TRETTMANNs jüngste Erfolge sind unabhängig von der Straßenbande zu betrachten. Stattdessen kongruierte sein „Rise to fame" vermutlich sehr gut mit dem zeitgleich steigenden Interesse für die deutschsprachige Cloud/ Lean/ Swag/ Wasauchimmer-Rap-Szene. Die Verwendung von Autotune ist plötzlich sehr viel weniger uncool und seine Soundästhetik mit KitschKrieg ähnlich wavy und elektronisch. Des Weiteren ist an dem Leipziger interessant, inwiefern vor Allem auf frühen Tracks seine Machtlosigkeit über seinen sächsischen Akzent einen großen Teil des Unterhaltungswerts und des Ohrwurmpotentials ausmacht.
Sprachliche Stilmittel
Können deutsche Dialekte hier eine ähnliche Funktion erfüllen wie das jamaikanische Kreolisch als Devianz des Englischen, die eben ein bisschen cooler und kantiger klingt als Hochenglisch? Auch bei Camora klingt das Wienerische immer wieder durch, Stereo Luchs fährt sogar ganz bewusst sein Schweizerdeutsch hoch. Bonez und die Strassenbande besitzen zwar keinen besonders vordergründigen Hamburger Dialekt, dafür aber den Straßenjargon, der ihren Texten in Kombo mit tiefen und rauen Stimmfarben Lässigkeit und Unterhaltungswert verleiht. Wenn man sich die namenhaftesten Vertreter Vybz Kartel und Mavado oder Tommy Lee Sparta, der auf "Palmen aus Plastik" mit einem Gastbeitrag vertreten war, anhört, wird klar: Auch eine markante Stimme und die virtuose Variation derselben ist eines der offensichtlichsten Merkmale des Dancehall. Während TRETTMANN, Gentleman und alle Anderen bis Jetzt, so eingängig sie im Einzelnen auch waren, vielleicht eines oder zwei dieser Attribute vereinten, sind aktuell ausgerechnet Bonez MC und RAF Camora der kleinste gemeinsame Nenner und lieferten mit „Palmen aus Plastik“ das bis dato konsequente Release in der Geschichte des deutschen Dancehall. Auch, weil sie ihren Wegbereitern Tribut zollten und TRETTMANN und D-Flame fleißig featurten.
Big tings a gwaan: Afro Trap
Derweil macht sich schon das nächste Element karibischer Musik in westlichen Hemisphären breit: Seit dem Erfolg des 22 Jahre jungen Fußballverrückten MHD aus Frankreich, der seinen Stil selbst „Afro Trap“ taufte, taucht zunehmend in Produktionen die typische Afrobeat-Rhythmik auf, die in etwas höherer BPM-Zahl auch dem Soca aus Trinidad und Tobago eigen ist. Mit DoubleXallas hat sich bereits der erste Straßenrapper gefunden, der den Stil ohne viel Variation ins Deutsche übersetzt, und auch die kommende EP von 187-Member Maxwell soll vom Afro Trap-Sound geprägt sein. Langsam, aber sicher sind diese Einflüsse auf dem europäischen Musikmarkt kein insuläres Phänomen mehr.
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D-Flame – Basstard
Eimsbush, 2000
Seeed – Music Monks
Downbeat, 2003
Benjie – So gesehen
DHF Records, 2003
Mono und Nikitaman – Das Spiel beginnt
Rootdown Records, 2004
Ronney Trettmann – Sommer ist für alle da
Warner Music Group, 2006
RAF Camora ist RAF 3.0 – RAF 3.0
Irievibrations Records, 2012
Miwata – Auf dem Weg Richtung Sonne
Jugglerz, 2012
Ronny Trettmann – Tanz auf dem Vulkan
Kick the Flame / Heckert Empire, 2013
Symbiz – One Four Five
Soulbeats Records, 2013
Bonez MC & RAF Camora – Palmen aus Plastik
AUF!KEINEN!FALL! / Indipendenza, 2016
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