Unterhaltsame Musicals einerseits, kurioses Tanztheater andererseits: Ja, in der Neuköllner Oper treffen wahrlich Extreme aufeinander. Seit der Eröffnung 1972, hat sich das vierte und kleinste Opernhaus Berlins als feste Größe für zeitgenössisches Musiktheater etabliert. Lebensnah und innovativ soll das Ganze hier sein. Doch wie passt die Oper ins Jahr 2016, wo sich doch immer weniger junge Menschen von ihr angezogen fühlen? Wie sichert man sich im Umfeld Neukölln Relevanz? Und weit weit darf und muss sie sich anpassen? Mit Bernhard Glocksin, künstlerischer Leiter der Neuköllner Oper, sprachen wir über das aktuelle Programm und neue Anforderungen.

Für Kulturförderung bleibt nur wenig Geld. Trotzdem eröffnen überall in Europa neue Musiktheater. Womit sticht die Neuköllner Opern heraus?

Das Interessante ist, dass wir jeden Monat ein neues Stück mit wenig Etat rausbringen. Ein Haus, das grundsätzlich und in der Dichte neue Stücke schreibt, gibt es ansonsten vermutlich nicht. Zum Glück kriegen viele Musiktheater-Truppen Förderungen, aber die meisten können nur zwei Stücke im Jahr machen.

Oper Neukölln

Bernhard Glocksin – Fotocredit: V. Stefan

Paradoxerweise gilt die Oper gleichzeitig als verstaubt und museal – geschaffen für eine Minderheit an Kunstfreaks. Wie schafft man es in einem Bezirk wie Neukölln, trotzdem junge Leute anzuziehen? 

Ja, für viele Leute steht die Oper für alte Kamellen. Wir schauen deswegen, welche Fragen gerade bewegen. Zum Thema Gentrifizierung gab es schon mehrere Stücke. Gerade in Kreuzkölln haben wir eine junge, internationale Clique. Da ist es wichtig, Themen zu nehmen, die aus einer Wirklichkeit kommen. Demnächst kooperieren wir mit Leuten vom Tanztheater. Tanz ist cool. Viele gucken sich eher Tanz an, als in die Oper zu gehen. Und man muss Formen wie visuelle Kunst integrieren.

Wie funktioniert ihr Haus im Vergleich zu großen Opernhäusern?

Zu den großen Häusern stehen wir in einer Art Spiegelverhältnis. Wir erzählen mit Hilfe von Musik und erzählerischem Theater neue Geschichten. Unsere Gegenwart ist voll mit herausfordernden Themen und Fragen. Da ist es blöd, nur alte Stücke zu spielen. Wir hatten diesen Monat die Premiere von „Elektra“. Da haben die Kollegen zwar auch bereits existierendes Material genommen, aber so krass collagiert, dass man am Ende ein komplett neues Stück hatte. Uns ist Relevanz wichtig!

Besuchen Sie die drei Staatsopern?

Ich gehe da nicht häufig hin. Es fängt damit an, dass sich Leute parfümieren und zurechtmachen. Ich denke mir dann: Was feiert ihr hier eigentlich? Ich will mit intelligenten Zeitgenossen zu tun haben. Es wird dumm, wenn es nur noch darum geht, ob der auf der Bühne super singen kann. Eine Masse, die nur Teile wahrnehmen will, und das Diktat der Partitur  – das spricht mich nicht an. Wenn ich sehe, was da aus Verdi gemacht wird, denke ich mir: What the fuck? Verdi konnte zu seiner Zeit nicht seine Leute kritisieren, aber wir können damit anders umgehen!

Wie sehr beeinflussen die derzeitigen Integrationsdebatten ihre Themenfindung?

Nun ja, wir leben in einer heterogenen Gesellschaft, in der eine riesen Debatte geführt wird, was Migrationshintergrund ist. Das deutsch-türkische Musiktheater hat in diesem Kontext eine lange Tradition bei uns. Wir haben eine neue Idee: Es gibt ein Stück von Roland Schimmelpfennig über 50 Jahre Deutsche und Türken. Er erzählt eine Liebesgeschichte mit Jugendlichen, die nachts über einen Schwimmbadzaun klettern. Erst gibt es Konflikte, dann beginnt ein Roadmovie durch die Stadt. Der Sohn des Ministers wird Minister, die Tochter des Migranten bleibt an der Supermarktkasse. Danach kann man sich streiten, ob wirklich alles so negativ ist.

oper

Grimm – Die wahre Geschichte von Rotkäppchen und ihrem Wolf. Foto ©: Presse Neuköllner Oper / Matthias Heyde


Sie möchten also den Dialog anregen?

Ja, dabei geht es für mich nicht nur darum, über Integration zu sprechen, sondern auch, wie sie vermittelt wird. Wir sind eine Mediendemokratie. Da ist die Frage, wie gelenkt die Wahrnehmung von Wirklichkeit eigentlich ist. In diesem Sinne war es uns wichtig, die ganze Geschichte aus der Perspektive von sechs Journalisten zu erzählen, die eine Story daraus machen.  

Wie funktioniert Oper 2016 musikalisch?

Wir versuchen, Stile zu finden, auf die die Leute Lust haben – also nicht nur aus der Hochkultur. Man muss sich öffnen, auch wenn der Komponist aus der avantgardistischen Musik kommt. Das ist ein Feld, das wir mit Vorsicht sehen, weil es quantitativ nur wenige Leute erreicht. Reine Pop-Musik machen wir aber auch nicht. Die gibt es überall. Es sei denn, man sieht „Stadtaffe“ als Pop. Im Herbst machen wir ein Stück mit der Musik von Peter Fox, in dem es um das Partyleben von Berlin geht.

Was ist ihr persönliches Highlight aus dem diesjährigen Spielplan?

Ich bin ganz aufreget wegen einer Oper, die ich wiederentdeckt habe. Sie heißt „Iris“ und hat asiatische Bezüge. Alles beginnt damit, dass einer sagt: Die will ich haben! Sie soll in ein Edelbordell gebracht und gefügig gemacht werden. Das Mädchen ist 16 und lebt alleine mit ihrem blinden Vater. Eine Sauerei! Es geht um Menschenhandel, Prostitution und die Frage,  wie wir mit unserer Welt umgehen, wenn nur Gier und Macht zählen. Unterstützt wird die Story mit Mangas und Animes.

Was steht ansonsten an?

Gerade läuft „Das schwarze Wasser“ – die Geschichte mit den deutschen und türkischen Jugendlichen. Wir haben einmal in der Woche ein Gespräch, um zu hören, welche Erfahrungen andere gemacht haben. Gleichzeitig läuft „Elektra“. Das ist wildes Theater! Und dann haben wir wieder ein großes internationales Projekt – dieses Jahr mit Spaniern. Es wird um Grenzen, Bewegung und das Internet gehen. Kommt erst in Barcelona raus und feiert im Herbst hier Premiere!  

Was wünschen Sie sich: Wie sollen die Zuschauer an ihre Stücke herangehen?

Ich wünsche mir, dass man sich von dem Wort „Oper“ nicht abschrecken lässt. Hier gibt es eine Leuchtreklame, auf der Kino und Oper steht. Ich denke da immer: Wenn ich die Wahl hätte, würde ich auch ins Kino gehen. Schön wäre es, wenn man dahinterguckt. Wie ein Film, von dem man keine Ahnung hat, aber man geht trotzdem rein. Zweitens hoffe ich, dass Leute zweimal kommen. Wir machen so unterschiedliche Sachen. Drittens wünsche ich mir, dass sich danach geäußert wird. Kommt ins Gespräch!

www.neukoellneroper.de

Titelfoto ©: Ingo Tesch