Leben, Kibbuz, Judentum, Berlin, 030 Magazin

Unsere neue Serie 'Lebensart' liefert Einblicke in die unterschiedlichen Lebensentwürfe der Berlinerinnen und Berliner. Für die erste Folge hat sich [030] Autorin Maria mit Levi R. getroffen. Er ist Jude und lebt seit 1973 in Berlin. So wie 20.000 weitere Juden, für die die bundesdeutsche Hauptstadt ihren Lebensmittelpunkt bildet.

In seiner kleinen Steglitzer Wohnung erzählt er uns von seinem Leben in Deutschland und der lehrreichen Zeit im Kibbuz.

Warum sind Sie mit jüdischen Hintergrund nach Deutschland gekommen? Warum gerade in das Land der "Täter" ?

Ich war ein mal zu Besuch in Deutschland und mir hat es hier sehr gut gefallen. In den 70ern herrschte eine andere Atmosphäre in Deutschland. Sehr locker und sehr offen. Ich fand schnell Anschluss. Ich spreche Jiddisch, deshalb fiel es mir nicht allzu schwer die deutsche Sprache zu erlernen. In Israel war die politische Situation damals schwierig. Ich war ein Pazifist. Ich wollte keinen Militärdienst leisten, und deshalb bin ich aus Israel weg.

Kann man sagen, dass ein Umdenken stattgefunden hat ?

Ja, definitiv in Deutschland ja. In den 70ern und 80ern war die Stimmung in Deutschland gegenüber Juden offen und locker. Dies hat sich leider seit der Wiedervereinigung verschlechtert. In Israel gab es in den 70ern eine neue Generation, die Generation nach der Shoa, also dem Holocaust. Obwohl die Geschichte noch spürbar war an vielen Orten, so war die neue Generation trotzdem offen und versöhnlich eingestellt. Man ging an das Thema Deutschland mit weniger Berührungsängsten heran. Juden sind ein unerschrockenes Volk, so waren wir schon immer.

Inwiefern würden Sie sagen unterscheidet sich ihr Lebensgefühl in Deutschland jetzt von dem in Israel damals und jetzt ?

Ich war keine allzu lange Zeit in Israel, für mich hatte Israel immer den Flair eines Urlaubslandes. Ein Ort, wo man Urlaub macht, nicht ein Ort wo man lebt und wo man arbeitet. Das war zumindest meine Ansicht als Jugendlicher. Heute denke ich darüber anders. Heute ist für mich ein Leben in Israel wieder vorstellbar. Deutschland ist für mich ein Ort, wo man arbeitet. Wo es sicher ist, wo man sich was aufbauen kann, wo der morgige Tag nicht vollkommen neue Umstände mit sich bringen kann. Wo morgen nicht das ganze Land verändern kann, dies ist in Israel immer potentiell möglich. Deutschland gibt mir ein Gefühl von Sicherheit und Beständigkeit. Israel ist jung, dynamisch und ansteckend in seiner Lebenslust. Ich fühle mich sehr frei in Israel. Allerdings ist die Sicherheitslage und die politische Lage der Nachteil.

Sehen Sie Deutschland als Ihre Heimat an?

Ja, ich sehe Deutschland als meine Heimat an. Allerdings bereitet mir die rechte Tendenz, die jetzt in Deutschland leider hier und da aufkommt etwas Unbehagen. Falls sich die Lage mit dem Antisemitismus und auch dem Antizionismus verschlechtert, dann muss ich mir leider diese Frage noch mal stellen, im schlimmsten Falle würde ich auswandern.

Sie haben mehrere Jahre in einem Kibbuz gelebt. Was ist das besondere an einem Kibbuz?

Ich bin aus der Sowjetunion nach Israel in ein Kibbuz gezogen. In der Sowjetunion herrschte Kommunismus, oder manche nennen es auch Sozialismus. Jedenfalls für mich war es vorgelogener Kommunismus/Sozialismus. Er war nicht echt, für mich war das Leben der Menschen in der Sowjetunion nicht so, wie die Idee des Kommunismus es eigentlich vorsieht. Man wurde in der Sowjetunion getäuscht. So habe ich es empfunden. Als ich aber im Kibbuz war, habe ich das erste mal echten Kommunismus erlebt. In einer Form, in der ich Kommunismus auch verstehe. Viele verstehen den Begriff des Kommunismus als etwas negatives, aber ein Kibbuz setzt die Idee um und erschafft dadurch etwas wunderschönes. Es ist eine in sich geschlossene Gemeinschaft, in der jeder absolut gleich ist. Sowohl der oberste Leader im Kibbutz als auch ein Apfelsinenpflücker vom Feld. Beide genießen denselben Status. Ein Kibbuz ist offen für jeden, jeder darf freiwillig für eine Zeit anschließen, ist gleichberechtigt wie ein Mitglied. Ich empfang das Leben im Kibbuz als eine positive Erfahrung. Es war friedlich, alle waren zufrieden, es war sehr harmonisch. Keiner hatte alltägliche Sorgen, die es außerhalb des Kibbuz gibt. So wie Rechnungen bezahlen, Ärger mit Behörden, Jobsuche. Alle Probleme wurden zusammen gelöst. Das hat dafür gesorgt, das die Stimmung ausgeglichen war, die Menschen wussten, sie werden aufgefangen. Jeder hatte eine Funktion, eine Aufgabe und konnte sich einbringen.

Gab es auch etwas negatives an der Zeit im Kibbuz?

Nein, eigentlich nicht. Mir fällt nichts Negatives ein. Vielleicht nur, dass ein Kibbuz ein bisschen wie eine künstliche Oase ist. Es hat schon etwas unechtes an sich, vor allem weil man weiß, die "echte Welt da draußen" anders funktioniert.

Wie sah Ihr Alltag aus ? Was haben Sie aus der Zeit im Kibbuz für Ihr weiteres Leben mitgenommen?

Ich habe dort vor allem die hebräische Sprache gelernt. Ulpan nennt sich das. 4 Stunden am Tag Unterricht, und 4 Stunden am Tag arbeiten. Am Anfang, als ich die Sprache noch nicht gesprochen habe, habe ich auf dem Feld Apfelsinen gepflückt. Als ich die Sprache dann schon etwas konnte, habe ich einen anderen Job bekommen. Ich habe in der eigenen Ölfässer Produktion des Kibbuz an den Fässern mitgearbeitet. Lustigerweise empfand ich das Modell des Kibbuz damals als sehr modern und progressiv. Ich dachte das wird sich auf der Welt durchsetzen als eine neue Lebensform. Ich empfand es gar nicht als etwas marginales, oder rückständiges.

Denken Sie Werte die in einem Kibbuz könnten die Gesellschaft verändern?

Ja das denke ich auf jeden Fall. Meiner Ansicht nach hat sich das Leben in einem Kibbuz positiv auf die Menschen ausgewirkt. Der Eintritt oder Austritt war ja auch freiwillig, niemand war gezwungen, jeder konnte gehen wann er wollte. Ich denke ein Kibbuz vermittelt viele sehr wichtige Werte. Zusammenhalt, Gemeinschaft, Zwischenmenschlichkeit, soziale Aspekte, Mutterschutz, Unterstützung für Familien, ein Verhältnis zur Natur, Bescheidenheit und die Konzentrierung auf immaterielle Güter statt auf materielle. Ein Leben im Kibbuz ist sicher nicht luxuriös aber ich habe gesehen, dass alle glücklich waren. Ich denke auf Mikroebene, als kleine Gemeinschaften hat das Kibbuz auch heute noch vielleicht eine Zukunft. Ein anderer Aspekt, der heute auch noch fortschrittlich ist, war, dass jeder gleich war und jeder eine Aufgabe bekommen hat. Egal was für eine Vergangenheit der Mensch hatte, oder ob er eine Behinderung hatte. Auch das Alter spielte keine Rolle. Jeder hat eine Aufgabe gemäß seiner Verfassung und Gesundheit erhalten. Es hab niemanden der sich zurückgezogen hat, der einsam war oder der sich nutzlos gefühlt hat. 

Text: Maria Murnikov