Don't Call Me Son, berlinale, 030

»Don’t call me son«, der aktuelle Film, der letztjährigen Panorama Publikumspreis Gewinnerin Anna Muylaert, könnte so vieles sein. EIn Eltern-Kind-Beziehungs-Drama gleich auf mehreren Ebenen.

Der 17-jährige Protagonist Pierre (Naomi Nero) erfährt, dass er als Baby gestohlen wurde – somit hat er seine soziale Mutter und die ihm bis dato völlig unbekannte biologische Mutter (die beide, für den Zuschauer tatsächlich nicht sofort erkennbar, von der gleichen Schauspielerin, Dani Nefussi, dargestellt werden). Die Geschichte von Don’t call me son basiert auf einer wahren Begebenheit, wobei der Film viel Spielraum für die fiktive Entwicklung der Figuren lässt („inspired by“). Der Fall scheint in Brasilien gut bekannt zu sein und  die Mutter sei medial als „Monster“ besprochen worden. Regisseurin Anna Muylaert habe sich in ihrem Film hingegen der Figur des Sohnes widmen wollen und somit entsteht eine coming-out-of-age-Geschichte, welche sich hauptsächlich oder zumindest vordergründig um die sexuelle Entwicklung dreht.

Auf der Suche nach der sexuellen Identität

Während die sexuelle Identitätssuche in der Jugend allein schon zu den schwierigen Entwicklungsaufgaben gehört, wird Pierre mit so vielen anderen grundlegenden Problemen und Veränderungen konfrontiert, so dass es scheint, als würde ihm der Rückzug in das Spielen mit weiblichen Attributen einen gewissen Halt geben (mehrfach zieht er sich in emotional belastenden Familienmomenten zurück, schließt sich ins Bad ein und trägt Lippenstift auf, fotografiert sich in Strapsen oder rasiert sich das Brusthaar). Spiel mit den Geschlechtern als halt-gebender Faktor in einer Umgebung, in welcher nichts mehr verlässlich scheint, nicht mal die eigene Primärfamilie.

Don't Call Me Son, berlinale, 030

Der brasilianische Film »Don't Call Me son« läuft im Panorama der 66. Berlinale.

Nicht zuletzt aber auch als Form der Rebellion gegen die neue Familie, die sich ihn ganz anders vorgestellt hat. Vor allem seinen leiblichen Vater kann er ohne Worte, jedoch mit der reinen Anwesenheit seiner selbst in einem Damenkleid in unvergleichlicher Weise aus der Fassung bringen. Für die Regisseurin selbst habe das Leitmotiv der sexuellen Identitätssuche vor allem zwei Gründe: Erstens habe sie beobachtet, dass in der Gesellschaft in ihren Augen (selbst 1964 geboren, spricht sie von dem Kontrast zu ihrer „Jugend“) eine zunehmende Sexualisierung, aber auch sexuelle Befreiung stattgefunden habe, welche sie damit habe darstellen wollen. Zweitens wolle sie die Wichtigkeit der Feminisierung unterstreichen – nach der  Emanzipation und der in ihren Augen damit einhergehenden Maskulinisierung – sei es nun an der Zeit dafür.

Applaus vom Publikum

Das Publikum applaudierte schon während des Films und es wurde – vor dem Hintergrund des dramatischen Inhaltes zunächst überraschend – viel gelacht. Dies ist bei der Berlinale so selten und dabei so oft herbeigesehnt. Somit ist gut vorstellbar, dass auch Don’t call me son von Anna Muylaert gute Chancen auf den Panorama Publikumspreis haben könnte. Bereits im letzten Jahr wurde sie mit diesem für den Film „Que horas ela volta?“ ausgezeichnet. Vielleicht wiederholt sich dies 2016.   

Text: Josefine Tegler

Don’t call me son

(Mae So Ha Uma)

Brasilien 2016

Länge: 82 min.

Regie /Buch: Anna Muylaert