Am Synthesizer ist Jean-Michel Jarre eine außergewöhnliche Erscheinung. Der französische »Godfather Of Electronic Music« bricht regelmäßig seine eigenen Besucherrekorde und ist bekannt für gigantische Konzerte mit aufwendigen Licht-Inszenierungen. Das 1976 erschienene dritte Studio-Album „Oxygène“ ist bis heute die meistverkaufte Platte in seiner Heimat Frankreich. Jean-Michel Jarre hätte sich also bereits vor vierzig Jahren auf seinen Lorbeeren ausruhen können. Hat er aber nicht und in der Folge neben 20 Studio-Alben auch etliche Live-Alben herausgebracht.
Sein aktuellstes Projekt ist „Electronica“. Gerade ist der zweite Teil dieser Serie erschienen, bei der Jean-Michel Jarre mit den unterschiedlichsten Musikern auf der ganzen Welt zusammenarbeitet. Im Sommer startet seine neue Tour durch die Arenen und Festivals, am 20. Oktober kommt er wieder nach Berlin und spielt in der Mercedes-Benz Arena. Was treibt den 68-jährigen Pionier der elektroakustischen Musik an? Wir trafen Jean-Michel Jarre zum Interview im Berliner 5-Sterne-Hotel Grand Hyatt und sprachen mit ihm über das Konzept von „Electronica 2“ und die ungewöhnlichsten seiner musikalischen Kollaborationen mit dem Whistleblower Edward Snowden, dem Detroit Techno-Pionier Jeff Mills und Siriusmo, einem der talentiertesten Produzenten der elektronischen Musik aus Berlin.
Monsieur Jarre, der erste Teil Ihres Projekts „Electronica“ von 2015 hatte den an Science-Fiction andockenden Untertitel „The Time Machine“. Der aktuelle zweite Teil setzt mit „The Heart of Noise“ einen Link zum Manifest des Futuristen Luigi Russolo aus dem Jahre 1913. Ist diese vor über 100 Jahren formulierte Aufhebung der Limitationen in der Klangerzeugung das, was Sie heute unter der Freiheit der elektroakustischen Musik verstehen?
Musik ist im Zentrum, also im Herzen des Geräuschs. Das ist es, worauf sich der Untertitel von „Electronica 2“ bezieht. Für vierhundert Jahre hatten wir Musik, die auf Noten und dem Klangkörper eines traditionellen Orchesters basierte. Elektrizität und Technik haben dann alles verändert und uns gezeigt, dass Musik aus Klang und Geräuschen besteht. Wir können mit einem Mikrofon Geräusche von der Straße aufnehmen und daraus Musik machen. Das hat tatsächlich mein Leben verändert. Mein Lehrer und Mentor Pierre Schaeffer ist meiner Meinung nach einer der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Elektronische Musik kommt aus Kontinentaleuropa und hat nichts mit tun mit Jazz, Blues oder Rock aus Amerika. Diese langen instrumentalen Musikstücke kommen aus Deutschland, Frankreich, Italien und Russland mit Leuten wie Leon Theremin. Das kommt von unserer Tradition der klassischen Musik. Und weil alles hier begann, sind Deutschland und Frankreich so wichtig für die Geschichte der elektronischen Musik.
Ist es nicht entscheidend, auf was für einem Instrument Musik erzeugt wird?
Die Technologie diktiert die Styles und nicht umgekehrt. Die Violine hatte großen Einfluss auf die Barockmusik von Vivaldi und die Dreiminuten-Single wurde zu den Zeiten von Elvis durch das Radio bestimmt. Und weil es das Massive-Plugin von Native Instruments gibt, können Leute wie Skrillex Dubstep und Electronic Dance Music machen. Natürlich sind Instrumente wichtig für den Sound, den wir zu produzieren in der Lage sind.
So könnte man sagen, dass das Konzept des Projekts „Electronica” irgendwo zwischen Science-Fiction und der Freiheit heutiger Musikproduktion liegt?
Ja, das ist sehr gut zusammengefasst, ich hätte es nicht besser formulieren können. Als ich mit Musik anfing, hatten wir einen positivistischen Appetit auf die Zukunft. Wir haben alle gedacht, dass nach dem Jahr 2000 das soziale System viel besser, wenn nicht sogar ideal sein würde, dass Autos fliegen können und solche Dinge. Dann haben wir realisiert, dass das nicht ganz eingetroffen ist – eher das Gegenteil ist der Fall! Jetzt sind unsere Zukunftserwartungen viel dunkler und haben so eine Art Terminator-Vision: Werden wir überleben und was geschieht mit unserer Umwelt? All die Superhelden aus dem Marvel-Universum, die die Science-Fiction von heute repräsentieren, sind eigentlich Charaktere aus der Mitte des letzten Jahrhunderts. Das ist doch ziemlich seltsam. Gleichzeitig müssen wir die Zukunft neu erfinden. Unter diesem Aspekt liegt elektronische Musik tatsächlich zwischen Science-Fiction und der Freiheit der Erforschung einer akustischen Welt, die nicht durch ein Popformat gefangen ist. Ich habe elektronische Musik immer wie das Kochen betrachtet: Sie ist fühlbar, essentiell und organisch. Und wenn DJ‘s vor ihren Plattenspielern oder was auch immer für Geräten stehen, dann stehen Sie wie vor einem Herd und kochen Loops und Beats. Organische Berührung und Freiheit stehen für ein anderes Gefühl von Raum und Zeit.
Rekurriert der Titel „Electronica“ im Wesentlichen nicht auf zwei Dinge: auf die elektronische Produktionsweise von Musik und gleichzeitig darauf, ein Bassin für verschiedene elektronische Musikstile zu sein?
Elektronische Musik hat auch eine Muse und das könnte die Enkeltochter von Elektra sein, der griechischen Göttin, die Licht und Energie symbolisiert. „Electronica“ ist für unsere heutige Verlinkung des Lebens mit Technologie eine feminine Version von Techno.
Lassen Sie uns über ein paar der Künstler sprechen, mit denen Sie auf dem neuen Album zusammengearbeitet haben. Ich habe zwei herausgepickt, die einen starken Berlinbezug haben. Da ist zum Beispiel Siriusmo, ein sehr talentierter Electro-Produzent. Er ist Ende der 70er-Jahre geboren, also genau vor vierzig Jahren als Ihr drittes Studio-Album „Oxygène“ den Durchbruch Ihrer Musikerkarriere begründete. Warum haben Sie ihn ausgewählt?
Bei meinem Projekt „Electronica“ geht es für mich in erster Linie darum, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die ich bewundere und die eine Quelle der Inspiration sind. Und innerhalb der Berliner Electro-Szene ist Siriusmo einer der aufregendsten und interessantesten Künstler sowohl vom musikalischen als auch vom graphischen Blickwinkel aus betrachtet. Er ist auch ein großartiger Street Art-Maler. Alle Künstler auf „Electronica“ haben einen unverkennbaren Sound. Und wenn man einen Track von Siriusmo hört, dann weiß man sofort, dass er es ist und niemand anderes. Er hat einen besonderen Zugang zu Musik, so wie er den Klang eines zerklüfteten Klaviers verwendet.
Und wie kamen Sie auf die Idee mit Siriusmo den Tune „Circus“ zu produzieren?
Siriusmo klingt für mich, als würden sich der italienische Filmmusik-Komponist Nino Rota und die amerikanische Elektronikmusikerin Wendy Carlos in einem Berliner Techno-Club im Morgengrauen treffen. Und ich denke, dass in „Circus“ etwas ist, das zu unseren beiden Welten passt. Wir haben gemeinsam, dass wir fröhliche, naive Melodien mit einer versteckten Underground-Melancholie mixen. Wir lieben beide diese impressionistischen italienischen und französischen Zirkusmelodien, die eine Traurigkeit in der Freude haben. Als Kind habe ich einen Clown im Zirkus gesehen. Alle anderen Kinder um mich herum haben gelacht, nur ich war traurig und habe geweint. Der Clown mit seiner roten und weißen Schminke war für mich der traurigste Typ in der Manege (lacht).
Ist diese Kindheitserfahrung auch der Grund dafür, warum Sie ihrem ersten selbstkomponierten Stück, das 1969 während ihrer Zeit bei der Groupe de Recherches Musicales um Pierre Schaeffer entstanden ist, den Titel „Happiness is a sad Song“ gaben?
Ja, so ist es, und in der Musik von Siriusmo gibt es auch diese Dimension von Fröhlichkeit in einem traurigen Song – so würde ich auch seinen Style beschreiben. Ich bin froh darüber, dass wir über Siriusmo sprechen, weil er nicht so bekannt ist wie die anderen Künstler, mit denen ich auf „Electronica“ zusammengearbeitet habe. Dennoch verdient er die größte Aufmerksamkeit. Für mich ist er einer der wichtigsten Künstler aus Berlin.
So scheint sich bei dem Song „Circus“ eine Verbindungslinie von den Anfängen Ihrer Musik-Karriere bis heute abzuzeichnen.
Ja, so sehe ich das auch. Ich denke, wenn ein Künstler etwas zu sagen hat, ist das immer die gleiche Geschichte. Ich betrachte die Arbeit eines Künstlers entlang seines Lebens wie einen einzelnen Film. Ein Album ist, auch wenn es einen Kontrast bildet oder widersprüchlich in seinem Oeuvre ist, die Kontinuität der Geschichte von einer Welt, von der ein Künstler erzählt. Das gilt gleichermaßen im Film für Stanley Kubrick oder Quentin Tarantino, wie in der Musik für die Beatles, Coldplay oder Massive Attack. Sie laden uns immer wieder ein in Abschnitte ihrer Welt. Mit dieser Art von Obsession versucht man es irgendwann einmal richtig zu machen.
Hier geht’s zum zweiten Teil des Interviews mit Jean-Michel Jarre!