Uri Orlev ist ein israelisch – polnischer Kinder- und Jugendbuchautor und Holocaust Zeitzeuge. Wie geht man mit Erinnerungen aus dem Holocaust um und wie sehr hat das geprägt, verändert, gebrandmarkt? Autorin Maria hat sich bei einem Kaffee in einem Kreuzberger Café mit ihm und seiner Frau Yanna Orlev unterhalten.
„Als ich klein war wusste ich nicht, dass ich Jude war. Es war in Warschau, ich war 4 ½. Wir spielten mit anderen Kindern draußen und plötzlich fragten sie mich Urek bist du jüdisch? Ich wusste es nicht. Also lief ich völlig besorgt zu meiner Mutter und fragte ob wir nun Juden seien. Ich hatte Angst, was das jetzt hieße, was jetzt passieren würde mit mir. Sie hat mich beruhigt und sagte Juden werden nun mal jüdisch geboren, wenn du nicht mehr möchtest kannst du konvertieren. Ab da wusste ich, dass ich Jude war.“ Als mir Uri Orlev diese Geschichte erzählt, schmunzelt er. Ein leichtes Lächeln. Dabei blickt er verträumt nach unten. Ich empfinde das Gespräch als entspannt, weil von ihm eine unglaubliche Gelassenheit ausgeht. Er greift zum Kaffee und erzählt, dass er 1931 in Warschau, als Sohn jüdischer Eltern geboren wird. Seine Mutter, Chemikerin, sein Vater Arzt. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder Kazik wächst er in Warschau auf. Als kleiner Junge wollte er Straßenbahnfahrer werden – laut durch die Straßen fahren und aufs Gaspedal treten. Dann entschied er sich um und träumte davon ein Polizist zu werden.
„Ich habe die Schule gehasst damals, ich erinnere mich noch wie ich an einem Tag in der Schule war und die Lehrerin auf mich zukam und meinte: Urek, du kannst nicht mehr zur Schule, du bist Jude. Ich muss sagen das war der schönste Tag meines Lebens.“
1939 bricht der Krieg aus und sein Vater wird zum Wehrdienst in die polnische Armee eingezogen. Im November 1940 wurden Uri Orlev und seine Familie gezwungen, ins Warschauer Ghetto umzusiedeln. Da sein Vater als Offizier diente, hatten sie anfangs eine eigene Wohnung und genug zu essen. Die ersten drei Monate, waren sogar schön erzählt er. Er genoss die Zeit mit seiner Familie, spielte mit seinem Bruder. Nach drei Monaten ging das Essen aus und 1942 startete das Töten.
„ Ich war acht, ich sah dass die Häuser brannten. Eine Frau stand oben und ihr ganzer Körper brannte. Sie stand im Haus und sprang aus dem achten Stock um ihr Leben schneller zu beenden. Ich war so neugierig, dass ich hingucken musste. Meine Mutter zog mich weg, um mich das nicht sehen zu lassen. Ich muss dazu sagen, dass ich es aufregend fand.“
In dem Buch „das Sandspiel“ schreibt Uri Orlov über sein Leben im Ghetto, die Nazizeit und seine Kindheit. Die Welt aus Kindesaugen zu sehen, mit Neugier, Naivität, die verhilft die Wahrheit ein wenig zu verschönern. Er erklärt mir, dass es seine Form von Verarbeitung ist das Geschehene aus Kindesaugen zu sehen, aus Kindessicht darüber zu schreiben. Das ließe ihn auf einer dünnen Eisschicht eines Sees stehen und bewahre davor nicht hineinzustürzen. Man kann es vorsichtig erzählen, man kann aber auch Grenzen überschreiten und dann zerbricht die Eisschicht. Ein gesunder Verdrängungsmechanismus der aus Angst entsteht. Nachdem viele Juden ihr Zuhause verließen, gab seine Mutter ihm und seinem Bruder den Auftrag nach leerstehenden Wohnungen zu schauen und nach Kohle für den Winter zu suchen. Dabei blickte er in die Kinderzimmer um nach Briefmarken und Autos Ausschau zu halten.
„ An einem Tag kamen wir in eine leere Wohnung. Es war prunkvoll eingerichtet wie in einem Festsaal und im Wohnzimmer an einem langen Tisch lagen die Leichen der gesamten Familie. Vater, Mutter, Kinder. Sie wollten ein letztes Mal zusammen essen und ihren Tod selbst bestimmen und es vor den Deutschen tun.“ Dann hört Uri auf zu sprechen. Nach kurzer Zeit fügt er hinzu: „ Nach so viel Grausamkeit haben mein Bruder und ich aufgehört Insekten zu töten oder das was Kinder eben tun.“
Ein Lächeln, dass sich durch das ganze Gespräch und sogar durch seine Bücher zieht. Wir sprechen wenig über schlimme, traumatische Erlebnisse. Das Gespräch hat keinen chronologischen Verlauf. Uri erzählt von Momenten, über die man meist schmunzeln kann. Uris Frau Yanna erzählt von seinem weiteren Leben. Nachdem seine Mutter mehrere Jahre in einer Ghettofabrik gearbeitet hatte, wurde sie schwer krank, 1943 haben sie die Nazis erschossen. Vor ihrem Tod bat seine Mutter ihre Schwester die Verantwortung für die beiden Kinder zu übernehmen. 1943 während des Aufstands werden die beiden Brüder aus dem Ghetto geschmuggelt und für drei Monate in einem Landhauskeller versteckt, den sie nur nachts verlassen. Im selben Jahr werden sie mit ihrer Tante nach Bergen Belsen deportiert, in welchem sie 1945 von der US amerikanischen Armee befreit werden. Danach ziehen die Brüder nach Palästina ins heutige Israel in das Kibbuz Ginegar, wo sie 20 Jahre verbleiben. Dort lernt er auch seine Frau Yanna kennen. Sein Vater überlebte das KZ und wusste, dass seine Kinder in Israel waren, kam sie jedoch nie besuchen. „Seine Frau rief uns an und sagte unser Vater sei gestorben und ob wir nicht herkommen wollten um uns zu verabschieden. Das war das erste Mal als ihn wieder sah. Ich sah ihn an, nahm seine Hände und verzieh ihm.“
Uri ist heute ein erfolgreicher Kinder und Jugendbuchautor. 1956 wird sein erstes Buch veröffentlicht. 1996 erhält er den Hans Christian Andersen Preis für sein Gesamtpreis. 2012 wird das Buch „Lauf, Junge, lauf“ verfilmt.
Text: Maria Murnikov