Unverfroren. Nassforsch. Lustvoll brachial. Kompromisslos. Massiv nach vorne. Frech und auf eine herrliche Weise respektlos: Das sind einige der Begriffe, die einem in den Sinn kommen, wenn man „Higher Power“ hört, das Debütalbum des kanadischen Trios The Dirty Nil. Es bietet wildesten (Noise-)Rock'n'Roll im Kompaktformat, kreischende Gitarren, polternde Drums und einen Bass, der einem förmlich den Magen umdreht.
Geradezu ein Wunder, dass man bei all dem Getöse noch Leadgesang erkennt, der obendrein, bei allem wütenden Unterton, noch mit richtig guten Melodien aufwartet. Kurz fragt man sich, ob sich da die verblichenen Krach-Götter von Mclusky noch mal für ein Album aufgerafft haben, auf dem sie The Jesus Lizard, Weezer, Rival Schools und Jawbreaker zu ein paar Jamsessions eingeladen haben. Doch damit liegt man schon deshalb falsch, weil die Mitglieder von The Dirty Nil von vielen dieser Bands erstmals gehört haben, als man begann, ihre Musik mit ihnen zu vergleichen. Noch unpassender wäre höchstens, sie aufgrund ihrer wütenden Ambition in die Punk-Ecke zu rücken – oder weil ihre erste Single bei 'Fat Wreck' erschien, dem Label von NOFX-Mastermind Fat Mike. Von ihm erfuhren sie zum ersten Mal, als man eine SMS erhielt mit der Einladung, eine Single auf seinem Label zu veröffentlichen – bis dahin wusste man gerade mal, dass NOFX wohl eine Punkband ist. „All das gehörte nicht zu unserer musikalischen Sozialisation“, sagen sie. Und das bewies sich dann auch, als die Single unter dem Titel „Fuckin' Up Young“ 2011 erschien – und von den Fat Wreck-Fans als „das schlimmste, was das Label je veröffentlicht hat“ bezeichnet wurde. Nun: Nur weil The Dirty Nil laut und wütend sind, sind sie eben noch lange kein Punk. Andere Newcomer hätte solch ein Urteil womöglich zum Aufhören gebracht.
Die drei Jungs aus Dundas/Ontario hingegen hat es nur darin bestätigt, dass sie offenbar etwas Eigenes machen, das nicht jeder sofort versteht. Und ganz bestimmt nicht die recht wertkonservative Punk-Szene. Was sich dann auch zeigte, als sie als Teil der VANS Warped Tour durch Nordamerika tourten. „Wir waren die ganze Tour hindurch die klaren Außenseiter“, lacht Gitarrist und Sänger Luke Bentham. „Weder die Punker noch die NuMetaller oder die Alternative Rocker konnten wirklich etwas mit uns anfangen. Aber die wenigen, die uns mochten, fanden uns dafür dann richtig klasse. Dabei lernt man, an sich zu glauben, und auch daran, dass es für unseren Sound eine Zielgruppe gibt, die man halt erst finden muss.“ Diese ganzen Genre-Verwechslungen kommen nicht von ungefähr. Denn das, was man jetzt auf ihrem Debüt zu hören bekommt, hat einen ganz anderen Ursprung. „Von Haus aus sind wir drei richtige Classic Rock-Kids“, erzählt Luke. „Wir haben als Jugendliche viel Hardrock und alten Metal gehört, dazu Wave und Garagenrock, aber auch Spacerock. Daran fanden wir cool, wie diese instrumentalen Könner alles an die Wand gniedeln, und dachten: Sowas auch mal zu können, wäre schon ganz cool.“ Als er sich sodann irgendwann die Gitarre griff und sein Schulkumpel Kyle Fisher sich hinter ein Drumkit setzte, mussten sie aber feststellen, „dass das alles gar nicht so einfach ist. Wirklich gut spielen zu können, erfodert eine Menge Disziplin und Geduld. Und geduldige Menschen sind wir nun wirklich nicht.“
Erst mit dem später hinzu gestoßenen Bassisten Dave Nardi reiften The Dirty Nil dann zu einer Band. Der Ausweg: Man schrieb bereits die ersten Songs, während man noch lernte, das eigene Instrument zu bedienen – ein Vorgang, der sich bis heute hält. „Immer wenn einer von uns eine neue Technik, ein frisches Detail, einen anderen Groove auf seinem Instrument gefunden hat, das er spielen kann, wird darum ein Song komponiert“, so Luke. „So arbeiten wir stets an der Grenze unserer Möglichkeiten und erreichen auf diese Weise, dass wir uns zwangsläufig ununterbrochen weiter entwickeln.“ Und es führte zu einer recht eigenwilligen Art der Veröffentlichungspolitik, denn zwischen ihrer ersten Single bei 'Fat Wreck' und dem nun erscheinenden Album liegen immerhin über vier Jahre, in denen lediglich einige weitere Singles und mit „SMITE“ eine Fünf-Song-EP lagen. Anhand dieser Veröffentlichungen kann man gut ihre instrumentale Entwicklung ablesen, denn die Songs wurden von Mal zu Mal versierter, überraschender und druckvoller. „Immer wenn wir ein paar Songs fertig und etwas Geld übrig hatten, sind wir halt in ein Studio“, erzählt Luke. „Denn wir wollten auch hier mehr Erfahrung sammeln und weiter kommen. Dass man sich dabei natürlich immer wieder Material für das eigene Debütalbum 'klaut', war uns zwar bewusst, aber relativ egal.“
Das Warten und die Vorbereitung hat sich gelohnt. Denn „Higher Power“ wird seinem Namen nun mehr als gerecht und dürfte 2016 das Album sein, das in Sachen Druck, Intensität und strukturiertem Lärm die Marke erst einmal für alles weitere definiert. Nur in Momenten wird man erlöst durch eine Melodie, die sich ins Ohr setzt und an guten College-Rock der 90er erinnert; doch die meiste Zeit bekommt man ihre Songs dermaßen um die Ohren gehauen, dass man mit offenem Mund nach Spucke ringt. Da ist so viel Kraft und Energie drin – und mittlerweile eben ein derart eigenständiges Songwriting – dass man sie zu ihrem Entschluss, sich mit dem Debütalbum Zeit zu lassen, nur beglückwünschen kann. Und als ob es noch nötig wäre, den schlecht sitzenden Punk-Schuh noch einmal mit Nachdruck loszuwerden, finden sich sogar in manchen Songtiteln und -zeilen nun Referenzen an die Bands, die sie wirklich geprägt haben – man siehe nur „Wrestle Yu To Husker Du“ oder das bereits zuvor als Single veröffentlichte „Guided by Vices“, das, da eben schon veröffentlicht, nun doch nicht mehr auf die Platte kam. „Wir wollen stets mit frischen Ideen überraschen“, so Luke. „Und wir hätten es als lahm empfunden, bereits veröffentlichte Songs noch einmal auf die Platte zu packen. Denn wir wollen weiter. Als Band, mit den Songs, auf Tournee.“ Eine solche quer durch Deutschland steht bereits für Anfang des Jahres an. Man darf sich darauf einstellen, dass einem danach nicht nur die Ohren klingeln. Sondern dass man eine Band gesehen hat, die den Begriff „juvenilen Überschwang“ mit unglaublicher Macht zu füllen versteht.
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