Politische, ökologische, soziale, individuelle und erkenntnistheoretische Ängste – sie alle sind auf Protomartyrs aktuellem Album »Relatives In Descent« Thema. Nun stellt die Band aus Detroit, die dissonanten Post-Punk in das 21. Jahrhundert zurückbringt, ihre neuen Songs live vor. Carina sprach zuvor mit Sänger Hoe Casey über Sorgen schürenden Populismus.
Es wird immer ungemütlicher auf dieser Welt. Protomartyr sehen das wohl genauso, jedenfalls könnten die vier Detroiter nicht gequälter klingen. Auch Album Nummer vier ändert daran nichts. Schroff pendeln sie auf »Relatives In Descent« zwischen Garage Rock, Post-Punk und kantigem Wave, wobei Joe Caseys nonchalanter Gesang nie in den Gezeiten der Gitarren-Wellen untergeht, sondern das Treiben bestimmt. Da wird in der Referenzkiste gerne mal nach Nihilisten wie The Fall oder Gang Of Four gegriffen. Nicht ganz zu Unrecht, möchte man meinen. Mit der Detroiter Hardcore-Szene hat das Ganze jedenfalls wenig zu tun – mal ganz abgesehen davon, dass Protomartyr genauso kaputt klingen wie die Stadt aussieht. Stattdessen: Kreissägen-Gitarren und industrielle Rhythmen wie sie in den britischen Achtzigern ertönten für Songs über die Menschheit im desolaten Zustand. Ziemlich kühl und doch emotional ganz nah dran am Hörer.
Wendejahr 2016 als Inspiration
Kaum etwas hat 2016 so sehr beschäftigt wie amerikanische Präsidentschaftswahl und Fake-News-Debatten. Anlass genug für Protomartyr, über Wahrheit, Falschinformation und Populismus zu philosophieren. »Wir glauben Dinge, nur weil wir annehmen, dass sie wahr sind und sie von oben, also von prominenten Menschen, kommen. Ich habe mich gefragt, warum das so ist«, erklärt Joe Casey den Hintergrund der neuen Songs. Doch wer kann schon wirklich sagen, was wahr ist und was nicht? »Das ist genau das Problem! Irgendwo da draußen ist die Wahrheit, aber wie man sie findet, weiß ich auch nicht. Ich selbst suche nach viele Antworten.« Das World Wide Web kann da nur bedingt Abhilfe schaffen. »Im Internet prasselt zu viel Ablenkendes auf uns ein, als dass die Wahrheit dort gänzlich zu finden ist. Wie ich an dem Album schrieb, fiel mir aber auf: Ein bisschen mehr Menschlichkeit würde für in dieser Welt doch schon helfen.«
Ein explizit politisches Album?
Nach dem Release ihrer 2015er-Platte »The Agent Intellect« ging es für die Truppe zunächst auf Tour. Die Zeit, ein Nachfolgealbum zu schreiben, fanden sie zwischendrin aber dennoch: erst Anfang des Jahres, dann im November und Dezember. Heißt: Die Songs entstanden sowohl vor der amerikanischen Präsidentschaftswahl als auch unmittelbar danach und zeugen so von der daraus resultierenden Angst, Verwirrung und Wut. Als Anti-Trump-Album sollte man die Platte aber nicht hören. »Relatives In Descent« haftet stets Unbehagen an, klingt nach kanalisierter Wut und lässt Casey desillusioniert über den Untergang der Welt predigen, verweist textlich aber nie explizit auf die Protagonisten des Politik-Zirkus. Politisch sind die Songs nichtsdestotrotz – weil Casey geschickt ein Panorama der Welt zeichnet und dabei unverblümt seinen ausgefransten emotionalen Zustand im gegenwärtigen politischen Klima darlegt.
Schattenseiten des Misstrauens
»Ich denke, ein Problem ist, dass die Menschheit nie skeptischer war«, grübelt der Songwriter und Sänger. Aber müsste ein gutes Maß an Skepsis nicht dazu befähigen, Informationen, die auf Manipulation abzielen, hinterfragen zu können? Wer hinterfragt, der kann auch Fake News enttarnen. Denke ich mir jedenfalls. »Ich meine das anders« wendet er ruhig ein. »Wir speisen unsere Informationen meistens nur aus einer Quelle: Eine Tageszeitung, eine Website. Es kann Experten für ein Thema geben, und doch ist ihre Sicht auf die Dinge im höchsten Maße einseitig. Möglichweise wissen sie über die Gegenseitig relativ wenig – oder sie wollen es nicht. Das macht meiner Meinung nach ziemlich viele skeptische Menschen auf diesem Planeten, die sich weiter von einer universellen Wahrheit entfernen.«
Was bleibt?
Keine guten Aussichten also. In absolute Horrorvisionen und permanenten Weltschmerz stürzt sich Casey deswegen aber nicht. »Die Welt ist einem katastrophalen Zustand, klar, aber ein bisschen Hoffnung ist da noch. Es kann gut sein, dass sie sich die Dinge ändern. Aber wenn ich teilweise jeden Tag auf der Bühne stehe, dann muss ich auch über etwas berichten, das mich aufrichtig beschäftigt. Und aktuell beschäftigt mich eben das.« Ob er dabei am Ende so wütend sei, wie er klingt, frage ich zum Abschluss »Nein, ich bin ich keine ärgerliche Person«, sagt er und dabei dringt das erste mal so etwas wie ein Lachen durch die Telefonleitung. »Wut führt zu Ängsten, und wohin Angst führt, sehen wir ja.« Definitiv true.
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