Ines Fornaçon hat vor 15 Jahren die Off Road Kids-Station in Berlin mit aufgebaut. Heute ist sie hier Standortleiterin. Wir sprachen mit der Diplom-Pädagogin über herzlose Behördenentscheidungen, fehlende Druckmittel und den richtigen Umgang mit den jungen Obdachlosen.

Haben sich die Biografien der Kids in den vergangenen 15 Jahren seit es die Berliner Station gibt geändert?

Ja, vor 15 Jahren hatten wir wesentlich mehr Minderjährige auf der Straße. Vieles davon hing mit pubertären Problemen zusammen. Die kamen mit einem Iro nach Hause, dann gab’s Streit und dann sind sie abgehauen. Viele Kinder kamen aus der Mittelschicht, wo man dann schon mit Gesprächen vermitteln und sie zurückschicken konnte. 

Und heute?

Sind die Kids älter. Um die 18 Jahre. Die meisten haben Jugendhilfe-Karrieren hinter sich. Viele sind mit Alkoholsyndromen geboren. Diese jungen Menschen sind von klein auf immer weitergeschickt worden. Und dann sind sie 18 und die Jugendhilfe greift nicht mehr. Wir haben junge Leute, die in der Jugendhilfe und auf dem Gymnasium sind. Die werden mitten im Abitur auf die Straße gesetzt. »Herzlichen Glückwunsch zum 18.! Hiermit beenden wir die Jugendhilfe!«

Wie viel habt Ihr mit dem Jugendamt in der Praxis zu tun?

Ich will das Jugendamt nicht verteufeln. Die haben auch engagierte Mitarbeiter und Ämter. Wir kriegen aber immer die krassen Fälle von der Straße.

Zum Beispiel?

Wir hatten neulich ein Mädchen, das 17 war. Die ist in der Jugendhilfe untergebracht worden und hat jetzt eine Ausbildung gemacht. Die kriegt jede Woche ihren Dienstplan, konnte dann aber ihre Gespräche mit den Jugendarbeitern nicht führen. Das wurde als mangelnde Mitarbeit ausgewertet. Mit 18 wurde sie auf die Straße gesetzt.

streetkids

Wie fühlt man sich dabei?

Da kriegt man Groll. Aber die sagen natürlich: „Cool, ich bin 18, ich kann selber bestimmen!“ Und dann ist Party oder sonst was angesagt.

Wie schwer ist es, Vertrauen zu den Kids aufzubauen? Die meisten Geschichten haben ja eher mit einem Vertrauensbruch zu tun. 

Unterschiedlich. Es kann sein, dass wir einen Menschen über ein bis zwei Jahre kennen, der aber sagt, dass er oder sie nichts mit uns zu tun haben will. Wir verteilen trotzdem 0800er-Karten. Es kann sein, dass sie nach weiteren Jahren doch anrufen und etwas verändern wollen. Unser Konzept ist so angelegt: Die Leute kommen freiwillig zu uns. Wir machen keinen Druck. Wir haben ja auch kein Druckmittel. 

Trotz der „Freiheit“ auf der Straße: Woran fehlt es den Jugendlichen?

Die Kids brauchen einen Perspektivenwechsel. Vorher mussten sie den Lehrern, Eltern oder wem auch immer gefallen. Jeder will was ihnen. Meistens lernen sie für ihre Eltern. Die müssen erst mal lernen, dass sie für sich selbst verantwortlich sind und das für sich machen.

Woran machst Du das fest?

Die kommen an und entschuldigen sich, dass sie mich vorm Jobcenter haben warten lassen. Ich sage dann immer: »Du musst dich nicht bei mir entschuldigen, sondern bei dir. Ich krieg dafür Geld, dass ich hier rumstehe. DU hast gerade kein Geld!« Wenn die nicht kommen, stehen wir auch das fünfte Mal da. Dann merken die langsam: Die haben Interesse an mir. 

Was denkt man sich eigentlich, wenn manche Klienten einfach nicht mehr wiederkommen?

Wir denken, dass es ihnen gut geht. In unserem Arbeitsfeld bekommt man in der Regel wenig Feedback. Wenn jemand stirbt, erfährt man es über ein paar Ecken. Früher war das öfter. Von der damaligen Stricher-Szene Bahnhof Zoo habe ich viele kennengelernt. Die sind alle tot. Alle. 


Foto: Alexander Indra