Früher kamen viele am 1. Mai zum Protestieren oder Krawallmachen nach Kreuzberg, heute kommen noch mehr zum Feiern. Das MyFest hat den Tag verändert und ist Beispiel für ein Dilemma alternativer Kulturproduktion.
"Heraus zum MyFest" – ein kurzer Rückblick
Der Slogan auf der Homepage der Initiative MyFest e.V. lehnt sich rhetorisch wohl bewusst an den Schlachtruf der traditionellen Maidemonstration an: „Heraus zum revolutionären 1. Mai“, das ist seit 1988 in Berlin eine Aufforderung zum Protest. Begleitet war dieser lange von gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. In der Zeit nach dem Eskalationsjahr 1987, in dem duzende Ladengeschäfte und Polizeiautos brannten, entwickelte sich der 1. Mai in Kreuzberg zu einer jährlichen Gelegenheit, politische Kämpfe mit brachialen Mitteln auszutragen. Die Bilder des Tages waren geprägt von Gewalt und Bränden – für die Anwohner eine hohe Belastung, die sie irgendwann nicht mehr zu tragen bereit waren. Als gemeinsame Initiative der Kreuzberger Bevölkerung, der Polizei und des Senats sollte das MyFest die Straßen um das Kottbusser Tor am 1. Mai mit einem anderem Geschehen füllen und die Krawalle räumlich zurückdrängen. Politische Kritik war allerdings auch hier angedacht: in Form von Ständen und Bühnenbeiträgen.
Party oder Versammlung?
Längst ist das MyFest eine Institution und wird als erfolgreiche Deeskalationsstrategie anerkannt. Dass es auch als Veranstaltung anziehend und über die Stadtgrenzen hinaus beliebt ist, hat jedoch seinen Preis: der Charakter des Festes hat sich mit den vielen, die kamen, drastisch verändert. 1. Mai in Kreuzberg, das hieß in den letzten Jahren vor allem Menschenmassen, Musikprogramm und kulinarische Freuden. Gesellschaftskritische Statements, so konnte man den Eindruck gewinnen, waren für die gut gelaunten Individualistenmengen eher Randgeschehen. Wie politisch ist das MyFest noch? Im Rahmen eines Gerichtsprozesses, den ein genervter Anwohner 2016 angestoßen hatte, ging es um genau diese Frage. Aufgrund des hohen Müllaufkommens, wild urinierender Gäste und versperrter Hauseingänge hatte er gegen das Fest geklagt. Es sei keine Versammlung, sondern in erster Linie eine hemmungslose Spaßveranstaltung. Zwar bekam der MyFest e.V. Recht und die Veranstaltung kann weiterhin als Versammlung mit Sonderrechten stattfinden. Allerdings hat der Streit ein grundliegendes Dilemma aufgezeigt: Zwischen dem Konzept des Festes und seinem heutigen Image gibt es Differenzen. Als politische Veranstaltung gedacht, scheint das MyFest für den überwiegenden Teil der Besucher schon länger vornehmlich Kurzweil zu sein.
Entpolitisiert, überrannt, überschrieben?
Es mag naheliegen, von Entpolitisierung zu sprechen, trotzdem ist es vielleicht voreilig: Wer in der Großstadt etwas anbietet, das allen offensteht, muss damit rechnen, dass auch alle ihre Spuren darin hinterlassen. Ob die Engagierten ein Fest als Plattform für sozialkritische Inhalte nutzen oder eher oberflächliche Feierwütige überwiegen, das ist sicher nicht nur vom Konzept der Veranstaltung abhängig. Kreuzberg, Kulturprogramm, umsonst und draußen: Dieser Rahmen wird – egal, ob explizit politisch oder nicht – anziehend für Tausende bleiben. Kann und will man diese Besucherscharen selektieren? Überdies ist rings um das angemeldete MyFest des Vereins in den letzten Jahren großräumig ein „wildes Fest“ aus improvisierten Bühnen und Gelagen entstanden. Weder verbindet diese ein bestimmtes Konzept, noch ist organisatorisch für die Hinterlassenschaften Sorge getragen. Auch das ist heute das MyFest: ein Konglomerat aus verschieden motivierten Gruppen, die sich nicht unbedingt auf einen gemeinsamen Nenner festlegen lassen, aber alle unter dem vermeintlich selben Dach versammeln. Schon lange ist das MyFest keine Veranstaltung vom Kiez für den Kiez mehr, längst kommt ganz Berlin mit all seinen Touristen zu Besuch. Vielleicht muss eine solche Vielstimmigkeit den Ursprungsgedanken verwässern. Das jedoch bedeutet nicht, dass er gestorben ist.
Hedonistische Protestform?
Eine Studie des Geographischen Institutes der HU von 2011 stellt das MyFest in den Windschatten neuer Protestformen. Heute gehe das Politische stark in die Unterhaltungsindustrie über, finde sich versprengt zwischen den kulturellen Ausdrucksformen einer Generation aus Hedonisten. Die Besucher des MyFestes jedenfalls kämen überwiegend wegen des Kulturprogramms. Allerdings sei eine Mehrheit von ihnen davon überzeugt, dass das Fest als Ganzes auch ein politisches Signal setzt. Möglicherweise behält Halis Sönmez, ein Gründer des MyFest, Recht, wenn er sagt: " Du gibst den Leuten ja auch Informationen aus. Und die Information hier ist die Problematik dieser Gegend. Wir wollen alle hoffen, dass davon etwas hängen bleibt." Dito.