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»Keine Zeit für Exzesse!« – Jennifer Rostock im Interview

Der erste Schwall nationaler Aufmerksamkeit im Zuge des Bundesvision Song Contest ist inzwischen neun Jahre her. Fünf Studioalben später haben Jennifer Rostock um Frontsängerin Jennifer Weist sich nicht nur als erfolgreiche Rockband, sondern auch als Diskursinitiatoren etabliert. Bildzeitung, AfD, und jetzt: Die feministische Hymne „Hengstin“. Im Musikvideo ist Weist nackt zu sehen. Grund genug für gesteigertes Medieninteresse.

Eure Songs, die eine gesellschaftliche Botschaft vertreten, provozieren oft gespaltene Reaktionen. Inwiefern war „Hengstin“ anders?

Joe: Die Kommentare haben eigentlich genau das bewiesen, was wir ausdrücken. Es gibt nach wie vor ein Sexismusproblem und die Leute flippen nur deshalb aus, weil eine Frau diese Dinge sagt. Auch unter anderen Videos ist auffällig, dass Menschen damit ein Problem haben und dann besonders ausfällig werden müssen. „Die Fotze! Die muss mal ordentlich gefickt werden!“ Per se ist es krass, solche Reaktionen hervorzurufen, aber wenn ein Typ im Video wäre, würden die vielleicht sagen „Du Arschloch!“, aber niemals so persönlich werden.

Du hast dich im Zuge der Behandlung deiner Brüste in der Bildzeitung schon beschwert, dass es nur um das Körperliche geht und die Botschaft dahinter keine Erwähnung findet. Das war jetzt erneut dasselbe Phänomen.

Jennifer: Ja, das ist schade. Trotzdem hätte ich es im Nachhinein nie anders gemacht. Der zentrale Satz „Ich glaube nicht, dass mein Körper deine Sache ist“ muss meiner Meinung nach mit Nacktheit unterstützt werden, denn ich kann mit meinem Körper tun, was ich will. Wenn ich im Bikini am Strand liege, interessiert es keinen, wenn ich im Bikini auf die Bühne gehe, ist es ein Aufreger. Das macht doch keinen Sinn!

Sehr unterhaltsam sind auch Männer, die sich auf Grund von Zeilen wie „Ich seh so viele Männer, aber so wenig Eier“ selbst sexuell diskriminiert fühlen.

Joe: Solang sich eine Frau gegen die Benachteiligung von Frauen ausspricht, heißt es von Seiten der Männer oft: „Ach, komm doch mal runter, entspann dich mal, nimm das doch nicht so ernst!“ Dann kommt eine Zeile wie diese und plötzlich meinen alle: „Ich fühl mich total angegriffen! Das ist der falsche Feminismus!“

Jennifer: Man kann gar nicht weit genug denken, um vorherzusehen, für welche Kleinigkeiten man im Nachhinein kritisiert werden könnte. Mir war nicht klar, dass es so eine wahnsinnige Aufregung geben würde, denn es ist ja auch nicht meine erste Nacktszene.

Joe: Vielleicht waren wir ein bisschen naiv, aber wir haben wirklich nicht gedacht, dass das so ein Ding wird.

Stört es euch manchmal, wenn die Diskussionen um gesellschaftliche Themen, die ihr bearbeitet, die Qualität der Musik überschatten?

Chris: Eigentlich ist das schönste, was man mit seiner Musik erreichen kann, einen Diskurs anzustoßen. Das ist wertvoller, als zu hören: „Das ist ein gutes Lied. Dazu kann ich gut vor dem Kamin sitzen.“

Die Single hat überraschend viel in Hip-Hop-Medien stattgefunden. Hattet ihr das Gefühl, Hip-Hop zu machen?

Jennifer: Ich glaube, man kann heutzutage gar nicht mehr so genau sagen, was Hip-Hop, Rock oder Pop ist. Dann müsste man viele Hip-Hop-Künstler auch fragen, ob sie nicht elektronisch angehaucht sind oder gerne Popmusik machen würden. Unsere Musik war schon immer eine Mischung aus all dem, was wir privat hören. Wir haben uns noch nie einem Genre zugehörig gefühlt.

Chris: Rapper hingegen schon, die nehmen ihre Szene sehr ernst. Als wir gesehen haben, dass wir in der Szene stattfinden, war uns deshalb auch klar, dass das einigen Leuten nicht gefallen würde.

Joe: Wir haben schon oft Songs gemacht, die Hip-Hop-beeinflusst waren. Durch den programmierten Beat und die Videoaufmachung war es diesmal vielleicht besonders deutlich. Letztendlich ist es aber eher ein Popsong.

Ist ein Konzert in Berlin etwas Besonderes?

Chris: Absolut. Es ist aber immer auch anstrengend, weil 100.000 Leute auf die Gästeliste wollen und einer davon 10 Minuten vor der Show noch anruft. Und nach dem Konzert hat man auch nicht seine Ruhe, dann muss noch saufen gehen.

Gibt es auf Tour noch viel Rock’n’Roll-Lifestyle?

Joe: Im Gegensatz zu früher überhaupt nicht.

Jennifer: Ich hab erst neulich wieder jemanden getroffen, der meinte: „Kennst du mich noch? Wir haben 2008…“ Da musste ich sagen: „Sorry, 2008 und 2009 sind aus meinem Gehirn komplett verschwunden.“ Damals waren wir sehr oft betrunken auf der Bühne.

Joe: Ich weiß gar nicht, ob wir heute wirklich so brav sind wie wir tun oder ob es uns nur so vorkommt, weil wir früher so hart übertrieben haben.

Chris: Das ist der Logistik einer Tour geschuldet. Nach dem Konzert wird alles eingeräumt und der Bus fährt weiter. Da ist gar keine Zeit für Exzesse. Im Bus sieht man dann jeden Abend dieselben Leute.

Joe: Trotzdem sitzt ihr da doch jede Nacht bis 5, sauft euch die Hucke voll und hört irgendwelche Emo-Musik.

Chris: Ja, aber das ist ja langweilig. Wir gehen ja nicht weg.

Hast du noch Platz für Tattoos?

Jennifer: Ich habe nur noch sehr wenig Platz und sehr viele Jahre Zeit. Deshalb höre ich jetzt gnadenlos auf. Es ist zum Beispiel Tradition, dass ich mir nach einem schönen Urlaub eine kleine Tätowierung machen lasse, um mich daran zu erinnern. So etwas mache ich noch, aber keine großen Projekte mehr. Dafür ist einfach kein Platz.


Jennifer Rostock spielen am 19. Februar in der ausverkaufen Columbia Halle.
Berliner Fans ohne Ticket erhalten im Sommer beim Fritz DeutschPoeten Festival die nächste Chance, die Band live zu sehen.

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