Mit seinem rigorosen KZ-Drama „The Son of Saul” sorgte der ungarische Regisseur László Nemes für einen Paukenschlag in Cannes. Vielen galt die Parabel über einen Überlebenden des Vernichtungslager als Kandidat für die Goldene Palme, doch es gab „nur“ den Grand Prix der Jury. Dafür bekam Nemes für sein Kinodebüt nun den Oscar.
Geboren wurde der Regisseur 1977 in Ungarn, seine Jugend verbrachte er in Paris. Er studierte an der Sorbonne Politische Wissenschaft, 2003 ging er nach Budapest und wurde Assistent von Regie-Ikone Béla Tarr. Als die Dreharbeiten von dessen „The Man from London” unterbrochen wurden, stieß Nemes auf ein Buch über die „Sonderkommandos“, jene jüdischen Aufpasser in den Konzentrationslagern. Das inspirierte ihn zu diesem Drama über die Hölle von Auschwitz, das am 10. März in den Kinos startet. Mit dem Regisseur unterhielt sich [030] Mitarbeiter Dieter Oßwald.
Herr Nemes, es gibt etliche filmische Auseinandersetzung zum Thema Konzentrationslager der Nazi-Zeit. Was hat Sie zu einem weiteren Film darüber bewogen?
Nemes: Ich war völlig enttäuscht von den Ansätzen der Filme, die sich mit dem Holocaust befassen. Dagegen wollte ich etwas unternehmen. Ich wollte die Zuschauer als Menschen ansprechen und ihnen nicht ständig zuviel erzählen. Mir war es wichtig, ein authentisches Bild zu zeichnen, das unaufdringlich ausfällt und sich auf einzelne Figur beschränkt.
Was stört Sie an bisherigen Filmen über den Holocaust?
Nemes: Sie zeigen zuviel und sie erzählen zuviel. Wir wollten nicht die Geschichte eines Überlebenden erzählen, wir zeigen das KZ als Todesfabrik. Eine Fabrik in der die Opfer zur Arbeit gezwungen wurden und die Täter gemordet haben. An diesem Ort der Vernichtung, wo alle Humanität verloren ist, spielt sich ein archaisches Drama ab: Der Held versucht, sich allen Widrigkeiten zum Trotz, menschlich zu verhalten und diesem toten Kind eine Beerdigung zu ermöglichen.
Sie belassen die Opfer stets in der Unschärfe der Kamera – kann man das Unfassbare einfach nicht zeigen?
Nemes: Dieser Schrecken soll der Vorstellungskraft des Zuschauers vorbehalten bleiben. Jedes konkrete Bild würde das Ausmaß dieses Schreckens begrenzen. Was sich im Kopf des Publikums abspielt ist besser geeignet, um zu spüren, welche enormen Abgründe sich an diesem Ort offenbarten. Eine traditionelle Inszenierung würde dem Grenzen setzen und den Zuschauer emotional entlasten.
In einer Szene, als die Opfer in die Gaskammer getrieben werden, verspricht ihnen eine Durchsage: „Nach dem Duschen wartet eine heiße Erbsensuppe auf euch.“ Gab es solche Ansagen tatsächlich, wie authentisch ist Ihre Darstellung?
Nemes: Solche Durchsagen hat es gegeben, sie sind durch Zeitzeugen historisch überliefert. Dasselbe gilt für die Todesschreie der Verzweifelten, die durch die Gaskammern nach außen drangen. Gleichwohl nimmt man sich bei einem Film die Freiheit der künstlerischen Darstellung. Im Unterschied zur Realität, wo diese Schreie ständig zu hören waren, vernimmt man sie bei uns nur kurze Zeit, denn sonst würde sich das Publikum daran gewöhnen – wie sich auf gewisse Weise auch die Mitglieder des „Sonderkommandos“ daran gewöhnten.
Die Schreie der Toten verhallen, es bleibt dennoch eine permanente Lärmkulisse aus Kommandogebrüll und Beschimpfungen. Welche Rolle spielt dieser bedrohliche Ton?
Nemes: Der Ton erinnert das Publikum ständig daran, dass hier viel mehr passiert, als was er sieht.
Die Hauptfigur ist im Film selten in ganzer Größe zu sehen, meist zeigen Sie ihn von der Hüfte aufwärts, weshalb?
Nemes: Auf diese Art mussten wir ihn nicht mit teuren Schuhen ausstatten und konnten das gesparte Geld an anderer Stelle verwenden. (Lacht) Wir bleiben mit der Kamera so dicht an dieser Figur, damit wir sie unmittelbarer bei ihrer Reise begleiten können. In unserem Blickfeld ist nur das, was auch Saul interessiert. Er beachtet auf den Horror nicht, er blendet ihn aus, weil er ohne diese psychologische Distanz gar nicht überleben könnten. Diesen Tunnelblick vollziehen wir mit der Kamera nach.
Welchen Einfluss hat Béla Tarr auf Ihre Arbeit?
Nemes: Béla war meine Filmschule. Welchen Einfluss er auch mich hatte? Solche Dinge passieren sicher unbewusst.
Ihr Film wurde staatlich finanziert, die aktuelle Regierung steht nicht unbedingt für Toleranz und Liberalität. Welchen Einfluss hat es gegeben?
Nemes: Die staatliche Förderung ist ein Zufall, weil wir in ganz Europa niemanden gefunden haben, der unseren Film finanzieren wollte. Alle haben das Risiko gescheut. Der ungarische Filmfonds trifft seine Entscheidungen nach professionellen Erwägungen, politischen Einfluss gibt es dort nicht – bislang jedenfalls nicht.
Mit welchen Gefühlen dreht man solch einen Film? Macht das nicht depressiv?
Nemes: Absolut. Wenn man so viele Monate in einem Krematorium zubringt, nimmt einen das natürlich mit, man fühlt sich wie gefangen in einem Strudel, dem man nicht entkommt.