Ein steiler Berghang, eine malerische Landschaft, Schnee soweit das Auge reicht – und dann lässt Tony los, stößt sich ab, stürzt waghalsig die Skipiste hinunter.
Das Resultat dieses Wintersport-Kicks ist ein Skiunfall. Eine schwerwiegende Knieverletzung katapultiert Tony (Emanuelle Bercot) geradewegs in eine Rehaklinik. Erschöpft und sichtlich gezeichnet hockt die Frau mittleren Alters nun am Schreibtisch der Therapeutin. Diese holt zu Ausführungen aus, die zunächst nach einer Möchtegern-Esoterikerin klingen: Ein verletztes Knie deute auch immer auf eine verletzte Seele hin. Diese Behauptung scheint mehr als nur einen Funken Wahrheit zu enthalten – Tony bricht unmittelbar in Tränen aus. Es folgen Rückblenden, die Tonys Vorgeschichte aufrollen, und Szenen der Gegenwart, die sich abwechseln. Stück für Stück setzt sich ihre Vergangenheit für den Zuschauer zusammen, während er parallel immer wieder ihren ungeschönten Klinik-Alltag verfolgt. Dieser wird hart für Tony – sehr hart. Das liegt nicht nur daran, dass ihr Knie nur sehr langsam heilt, sie mit Schmerzen und herben Rückschlägen zu kämpfen hat – vor allem ihre Psyche ist tief verletzt. Diese Schäden sind nicht frisch wie jene am Knie, sondern haben sich über zehn Jahre in Tony gegraben. Wie sollte es anders sein: die Verletzung resultiert aus einer tragischen Liebe zu einem Mann. So weit, so bekannt.
Das Kennenlernen mit Georgio (Vincent Cassel), dem attraktiven Koch mit wildem Lockenkopf, ist intensiv. Alles läuft für die beiden wie im Bilderbuch. Trotz zahlreicher Model-Exfreundinnen entscheidet sich Georgio für Tony – sie, eine durchschnittliche Frau. Auch das dürfte jedem Zuschauer bekannt vorkommen, der wenigstens Til Schweigers "Keinohrhasen" gesehen hat. Blitzschnell durchläuft das Paar obligatorische Stationen: Schwangerschaft, Zusammenziehen, Heirat. Jeder beneidet die beiden – nur Tonys Bruder hegt von Anfang an offen Zweifel. Georgios Rolle als Frauenheld ist zunächst vollkommen unproblematisch und sorgt nur für charmante bis humoristische Situationen auf der Leinwand. Als Georgios von ihm besessene Exfreundin aufkreuzt, dämmert es dem Zuschauer: nun wird die rosarote Brille abgelegt. Es folgt ein Absturz von Wolke 7, der es in sich hat. So schnell wie der Aufstieg war, so rasant schlägt die hochschwangere Tony auf dem harten Boden der Wirklichkeit auf. Georgio entpuppt sich als Arschloch mit Geheimnissen, Steuerschulden, Drogenproblemen und vor allem der falschen Prioritätensetzung. Unterdessen wird Tony unfreiwillig in die Rolle der Hausfrau und Mutter gedrängt. Nur das Kind genießt – sobald es geboren ist – noch Georgios uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Tony wirkt hingegen immer mehr wie ein Mittel zum Zweck, wie diejenige, die lediglich Georgios Kind ausgetragen hat. Die ehemals gestandene Rechtsanwältin landet in einer ausgewachsenen Depression. Sie kämpft in ihrer Vergangenheit genauso sehr mit ihren Gefühlen für Georgio wie in der Gegenwart mit ihrem Knie, das nicht so funktionieren will, wie es sollte.
Die Beziehung von Tony und Georgio basiert nicht länger auf gegenseitiger Liebe, sofern sie es je getan hat, sondern auf Obsession. Sie schafft es nicht zu gehen, weil sie ihn liebt, er lässt sie nicht gehen, weil er es genießt, sie in Abhängigkeit von sich zu wissen. Wie lang all das weitergeht, spiegelt ihr gemeinsamer Sohn wider, der parallel zum Hin- und Her seiner Eltern bis zum Schulkind heranwächst. Die Zuschauer sehen Tony dabei zu, wie sie immer wieder zielgenau ihrem Elend in die Arme rennt und wiederholt für flüchtige Glücksmomente bleibendes emotionales Leid in Kauf nimmt. Das fühlt sich so an wie ein Gespräch mit diesem einen beratungsresistenten Freund oder Bekannten, den jeder schon einmal hatte. Mit demjenigen, der sich monatelang immer wieder in denselben Problemen suhlt und sich immer wieder über sie beklagt und sie immer wieder nicht zu lösen versucht. Eine unglückliche Liebe ist als Filmthema so alt wie das Medium selbst. "Mein Ein, Mein Alles" findet leider keine neue Herangehensweise an die Thematik. Dem rund zweieinhalbstündigen Film hätte eine Komprimierung der Handlung gut getan, da die Aussage der Bilder immer dieselbe bleibt: Tony kämpft, Tony leidet. Als Zuschauer muss man dieses filmische Thema definitiv mögen, um sich dem an einem geduldigen Tag zu widmen. Wer diese Voraussetzungen erfüllt, kann den typischen Charme französischer Filme eingebettet in einem eingängigen Soundtrack auf sich rieseln lassen. Man muss dem Film in jedem Fall zugute halten, dass dieses Gefühl der Anstrengung und der strapazierten Nerven in erster Linie den brillierenden Schauspielern zu verdanken ist. Da ist Vincent Cassel auf der einen Seite, der als widerwärtiger Kerl jener Sorte glänzt, von der man jeder Freundin nachdrücklich abraten würde. Auf der anderen Seite zieht Emanuelle Bercot den Zuschauer beeindruckend intensiv in Tonys emotionale Abwärtsspirale hinein und macht ihr Leid nachspürbar. – Text: Cindy Böhme
Mein Ein, Mein Alles
Regie: Maïwenn
DarstellerInnen: Emanuelle Bercot, Vincent Cassel, Louis Garrel u.a.
Kinostart: 24. März 2016