Nach der leichten Liebesgeschichte "Die Standesbeamtin" (2009) inszeniert der Schweizer Regisseur Micha Lewinsky, der in Berlin lebt, mit "Nichts passiert" ein tragisch-komisches Sozialdrama und knüpft damit an seinen ersten herausragenden Film "Der Freund" (2008) an.
Lewinskys Interesse gilt eindeutig Außenseiterfiguren. So übernimmt in "Nichts passiert" Devid Striesow die Rolle des verunsicherten und gehetzten Familienvaters Thomas Engel, der mit dem alljährlichen Skiurlaub in den Schweizer Bergen wieder Harmonie zwischen sich, seiner Frau (Maren Eggert) und der heranwachsenden Tochter (Lotte Becker) herstellen möchte. Doch seine Motivation springt bis zuletzt nicht wirklich auf die anderen über, erst recht nicht als Thomas noch Sarah (Annina Walt), die Tochter seines Chefs, mitnimmt. Thomas' Tochter empfindet Sarah als störend. Das Mädchen ist eifersüchtig auf die Aufmerksamkeit, die der gefühlten Konkurrentin erst der eigene Vater und bald auch der 20-jährige Severin (Max Hubacher), der Sohn des Hausverwalters, zukommen lassen.
Als die Mädchen abends zu einer Feier ins Dorf wollen, findet Thomas Sarah vollkommen aufgelöst vor, sie erzählt ihm, Severin habe sie zum sexuellen Verkehr genötigt. Aber: Sarah möchte, dass Thomas die Geschichte für sich behält, was ihn überfordert. Einerseits darf dieses Unrecht nicht unbestraft bleiben, andererseits fürchtet er die Konsequenzen. Seine Annäherungsversuche gegenüber seiner Frau gestalten sich dadurch noch schwieriger als ohnehin schon. Das Gespräch mit dem Vater des Jungen läuft anders als erhofft und schließlich verrennt sich Thomas in eine verfängliche Situation nach der anderen. Lewinsky erzeugt in seinem Film von Anfang an und mit einfachen Mitteln eine bedrängende, unheildrohende Atmosphäre. Schauplätze und Ausstattung konzentrieren sich auf ein Minimum und wirken dadurch authentisch. Aufgenommen wurde "Nichts passiert" in einem Dorf nahe Davos, gekennzeichnet durch kurvenreiche Hangstraßen und idyllische Aussichten auf die Bergkulisse. Sie bilden einen gelungenen Rahmen für die alles andere als versöhnliche Handlung. Die Dialoge und noch vielmehr die teilweise gestotterten Monologe der Hauptfigur sind ungekünstelt, präzise und von überzeugender Tragikomik. Der Autor stellt eine genaue Beobachtungsgabe, ein differenziertes Denken sowie ein hohes Einfühlungsvermögen unter Beweis.
Mit der Figur des Thomas Engel, die Striesow tatsächlich wie auf den Leib geschrieben zu sein scheint und zu einer seiner vielschichtigsten Rollen gehört, zeichnet Lewinsky ein feines psychologisches Bild eines konfliktscheuen und labilen Menschen, mit dem sich der Zuschauer über den Grossteil der Zeit identifiziert. Der Film liest sich weniger als Anklageschrift, sondern soll gemäß der Intention des Autors, den Zuschauer zum Nachdenken bringen, wie er selbst in einer ähnlichen Situation reagieren würde. Dass sich hier Theorie und Praxis wesentlich unterscheiden, legt er seinem Publikum gleichermaßen nahe. Zweifelsohne ist Striesow ein Gewinn für "Nichts passiert". Doch Lewinsky hat bereits in seinen beiden ersten Filmen ein hervorragendes Gespür für jüngere, noch unbekannte Talente bewiesen, so interpretierte Philippe Graber beispielsweise in "Der Freund" die Hauptrolle meisterhaft – ein Charakter, der Striesows Thomas Engel ähnelt. In "Nichts passiert" fällt insbesondere Annina Walt auf, die das verängstigte Mädchen Sarah einfühlsam darstellt. – Text: Teresa Vena
Nichts passiert
Regie: Micha Lewinsky
Darsteller: Devid Striesow, Maren Eggert, Max Hubacher, Annina Walt, Lotte Becker
Kinostart: 11. Februar 2016