Während Jon Favreau das Kinopublikum seit letzter Woche mit „The Jungle Book“ in den (komplett animierten) Dschungel Indiens entführt, bringt uns der Kolumbianer Ciro Guerra nun die Geheimnisse des Amazonas näher. „Der Schamane und die Schlange“ ist ein hinreißend fotografiertes Historiendrama, das die Schrecken des Kolonialismus anklagt und dabei immer wieder eine dezidiert indigene Perspektive einnimmt.
Anfang des 20. Jahrhunderts dringt der erkrankte Anthropologe Theo (Jan Bijvoet) mit seinem einheimischen Assistenten Manduca (Yauenkü Migue) in die geheimnisvolle Welt des Amazonas vor, wo er die angeblich heilbringende Yakruna-Pflanze zu finden hofft. Hilfe bei der Suche erhalten die beiden von Karamakate (Nilbio Torres), einem Schamanen, der verzweifelt gegen die Unterdrückung durch die weißen Kolonisatoren ankämpft. Knapp 30 Jahre später trifft der mittlerweile desillusionierte Urwaldbewohner auf den amerikanischen Botaniker Evan (Brionne Davis), der ebenfalls das sagenumwobene Gewächs ausfindig machen will und Karamakate überzeugen kann, ihn zu begleiten.
Auch wenn der Abenteuerfilm von den Aufzeichnungen der beiden Forscher Theodor Koch-Grünberg und Richard Evans Schultes inspiriert wurde, drängt sich die Perspektive der westlichen Reisenden keineswegs in den Vordergrund. Die Figur des Schamanen ist nicht nur das Bindeglied zwischen den zeitlich getrennten Handlungslinien, die kunstvoll miteinander verwoben sind, sondern auch ein Sinnbild für das Leid, das die Ureinwohner Südamerikas durch die Kolonisierung ertragen mussten. Anhand Karamakates Erfahrungen und seiner persönlichen Entwicklung von einem wütenden jungen Mann zu einem gebrochenen Zweifler zeigt Ciro Guerra die weitreichenden Konsequenzen des Kulturkontaktes auf. Ganze Völker fielen den Begegnungen zum Opfer. Und bedauerlicherweise sterben unaufhörlich alte Lebensweisen aus, die uns einen anderen Blick auf Zeit und Raum vermitteln könnten.
Den geheimnisvollen Dschungel fängt das Oscar-nominierte Drama in schlichten, aber betörenden Schwarz-Weiß-Aufnahmen ein und lässt ihn über eine intensive Klangkulisse lebendig werden. Kritik an den Auswüchsen der Kolonialzeit und am Überlegenheitsdenken der Eindringlinge kommt schonungslos zum Vorschein. Etwa wenn die Protagonisten im ersten Handlungsstrang auf einen Missionsstützpunkt treffen, an dem Angst und Unterdrückung vorherrschen. Unheimlich wird es spätestens dann, als Karamakate und Evan drei Jahrzehnte später denselben Ort besuchen und eine Gemeinschaft vorfinden, die dem Wahnsinn anheimgefallen ist. Erinnerungen an Werner Herzogs fiebrig-imposante Dschungelabenteuer „Aguirre, der Zorn Gottes“ und „Fitzcarraldo“ lassen sich nicht abschütteln. Am Ende ist „Der Schamane und die Schlange“ aber ein höchst eigenständiger, zuweilen hypnotischer Urwaldtrip, der den Standpunkten der Ureinwohner, anders als die Herzog-Filme, viel Aufmerksamkeit schenkt. Schön zu sehen auch in den Diskussionen zwischen dem Schamanen und Manduca, der sich an den Europäer Theo angepasst hat, da er glaubt, ihm seine vom Untergang bedrohte Kultur auf diese Weise vermitteln zu können.
Der Schamane und die Schlange
Länge: 125 Min.
Regie: Ciro Guerra
DarstellerInnen: Nilbio Torres, Jan Bijvoet, Antonio Bolivar, Brionne Davis, Yauenkü Migue, Nicolás Cancino, Luigi Sciamanna