Selten hat man in der vergangenen Zeit das französische Kino so klassisch gesehen wie in diesem Film der noch verhältnismäßig jungen Regisseurin Mia Hansen-Løve. Die 35-jährige Pariserin erinnert an die Meisterwerke ihrer großen französischen Kollegen wie Éric Rohmer oder Claude Chabrol. Mit ihrem zurückhaltenden Inszenierungsstil überlässt sie die Bühne ganz den Figuren und den Konflikten und Schicksalsschlägen, denen diese ausgesetzt sind.
Dass dieses Konzept so grandios funktioniert wie bei den Altmeistern liegt nicht zuletzt an Isabelle Huppert in der Hauptrolle der Nathalie. Diese ist Philosophielehrerin und geht voll in ihrem Fach auf. Sie ist außerdem Herausgeberin von Schulbüchern und editiert eine eigene Schriftenreihe zu diesem Thema. Privat ist sie seit 25 Jahren glücklich verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Doch dann wendet sich das Blatt und zwar gleich in allen Lebensbereichen. Ihr Mann verlässt sie aus heiterem Himmel für eine andere, der Verlag will ihre Publikationen einstellen oder gründlich überarbeiten und ihre Mutter, die sie sonst ganz schön auf Trab gehalten hat, lässt sich widerspruchslos in eine Altenheim einweisen. Nathalie spürt trotz all der Widrigkeiten auf einmal ein lange nicht mehr gekanntes Gefühl von Freiheit, das sie erst einmal mehr verwirrt und an das sie sich erst langsam wieder gewöhnen muss.
Isabelle Huppert scheint die Rolle der bürgerlichen Nathalie mit ihrem Alt-68er-Hintergrund förmlich auf den Leib geschrieben und entsprechend geht sie in ihrer Figur auf. Die stets so brillante und nuancenreiche Schauspielerin spannt zugleich den Bogen zu den großen französischen Regievorbildern, mit denen sie allesamt bereits gearbeitet hat. Doch auch das Drehbuch, das Regisseurin Mia Hansen-Løve selbst verfasst hat, knüpft an diese Tradition des Politischen im Privaten an. Äußerst feinfühlig faltet die französische Regisseurin das Leben der bürgerlich gewordenen Alt-68er auseinander, die es sich in der Gesellschaft mittlerweile finanziell bestens ausgestattet bequem gemacht haben. Als Kontrast dazu lässt sie die französische Jugend von heute auftreten, der es an beruflichen Perspektiven mangelt und die deshalb demonstrierend – nicht zuletzt gegen ihre eigene Elterngeneration – auf die Straße geht. Mia Hansen-Løve ist mit dieser tragischkomischen Suche nach neuen Anfängen ein starkes und an die Traditionen des großen französischen Kinos anknüpfendes Frauenporträt gelungen, das nicht zu Unrecht auf der diesjährigen Berlinale mit dem Silbernen Bären für die beste Regie ausgezeichnet wurde.
Alles was kommt
Länge: 102 Min.
Regie: Mia Hansen-Løve
DarstellerInnen: Isabelle Huppert, André Marcon, Roman Kulinka, Edith Scob
Kinostart am 25.08.16