Keine Zeit für schlechte Bücher? Check, wir auch nicht. Jeden Monat stellen wir Euch deshalb unsere derzeitigen Lesefavoriten vor. Dieses Mal mit jeder Menge Kuddelmuddel zwischen Fiktion und Realität.
Anke Stelling – Fürsorge
In Stellings letztem Roman ging es um Prenzlauer Berg-Mütter. So eine ist sie selbst. Diesmal: Eine Ballettlehrerin, die mit ihrem Sohn schläft. Die Perspektive der Ich-Erzählerin ist verwirrend: Sie scheint die Hauptfigur Nadja zu kennen, aber nicht gut, manchmal genau Bescheid zu wissen, manchmal alles zu erdichten. Es ist eine Art Hörensagen-Geschichte der spießbürgerlichen Nachbarn und Freunde von der Frau, die mal eine kleine Berühmtheit war und ein abweichendes Leben führt. Sowohl die ehemalige Tänzerin als auch ihr 16-jähriger Sohn, der in einem Fitnessstudio arbeitet, definieren sich und kommunizieren einzig über ihre Körper. Für Sterling Grund genug, Tabubereiche der Mutter-Kind-Beziehung zu erforschen, wenn die einsamen Seelen ihre angelegte Verbundenheit suchen. Recht vorhersehbar windet sich das Narrativ aus dem Ruder. Die Inszenierung ist trocken, aber nie verherrlichend und nie verurteilend. (mr) VÖ: 7.3. / VERBRECHER VERLAG
Forrest Leo – Der Gentleman
Das Debüt des 27-jährigen Schauspielers, Fotografen und Tischlers beginnt mit einer Diskussion diverser Suizidmöglichkeiten zwischen Dichter Lionel Savage und Butler Simmons, einer Gouvernante im Smoking. Letzterer wird mal eben zum Therapeuten, weil sein Schützling aus finanziellen Engpässen eine vornehme Lady heiratet und sich dann über eine Schreibblockade wundert. Aus Versehen schickt der blasse Poet seine oberflächliche Gemahlin eines Nachts in die Hölle, weil er mit dem Teufel sympathisiert. Dieser höllische Gentleman hat sich auf der Hausparty von Mrs Savage sofort mit deren Ehemann angefreundet. Klingt absurd, dennoch wird behauptet, alles sei ein Bericht des Dichters. Amüsanterweise wird dieser durch Fußnoten seines Cousins stetig in Frage gestellt. Das neu-viktorianische Werk eines Multitalents aus Alaska ist ein Abenteuer, das ein erstaunliches Repertoire an versteckten Weisheiten bietet. (ls) VÖ: 11.4. / AUFBAU VERLAG
Tex Rubinowitz – Lass mich nicht allein mit ihr
Hä, ist das jetzt Wahrheit oder Fake? Bei Tex Rubinowitz vermag das niemand zu sagen. Genau das macht seine neuen Story zur passendsten in der postfaktischen Zeit, denn mit allerlei Unfug treibt er das unzuverlässige Erzählen auf die Spitze. Wer sich auf dieses Buch einlässt, sollte das wissen, obgleich der Ich-Erzähler wie der Autor heißt und einige biografische Gemeinsamkeiten hat. Fest steht jedoch nur: Er befindet sich in einer Schreibkrise und so entsteht ein Roman, der von dem Problem handelt, einen Roman zu schrieben. Oder ist das Ganze doch die Erzählung über den Arbeitskollegen Abdul, der sich beim Masturbieren strangulierte? Vielleicht ist Tex aber auch nur eine Erfindung des Toten? Schon bald entsteht ein wilder Pseudo-Krimi, bei dem die Weichenstellung von realistischen metafiktionalen Arrangements geradezu genial gelingt. Ein Verwirrungsspiel der besonders raffinierten Art. (ch) VÖ: 17.3. / ROWOHLT
Titelfoto: Leo Forrest