Tocotronic veröffentlichen ihr zwölftes Studioalbum. Es trägt den Titel „Die Unendlichkeit“ und ist als Autobiografie angelegt. Aber bevor wir zum Interview kommen, ein einordnender Blick zurück.
»Lieder wie Tagebuch schreiben« hieß es häufig über die Anfangsjahre der 1993 von Dirk von Lowtzow, Jan Müller und Arne Zank in Hamburg gegründeten Band. Zwischen 1994 und 1997 wurden in atemberaubendem Tempo vier Alben mit jeweils bis zu 18 Songs veröffentlicht. Die drei fesch frisierten jungen Männer in Trainingsjacken und Cordhosen eroberten mit Charme und krachig-melancholischem Indierock schnell eine Menge von Herzen und Köpfen. Dirk von Lowtzows Texte beschrieben, scheinbar aus dem Bauch heraus, gleichermaßen wütend und empfindsam, altklug und jugendlich-naiv die ihn umgebende Welt und die Menschen in ihr. Spätestens seit dem Album „Tocotronic“ (2002) mit der programmatischen Textzeile „Eines ist doch sicher, eins zu eins ist jetzt vorbei“ (aus dem Song „Neues vom Trickser“) vollzog die Band einen Wandel in Form und Inhalt, und stand nun für abwechslungsreiche Lieder voller phantastischer Motive, Rätsel und Theorien. Die Person Dirk von Lowtzow konnte in den Songtexten häufig nur vermutet werden. Dem Erfolg tat das in den Jahren danach keinen Abbruch. Mit dem Album „Schall und Wahn“ (2010) eroberte die Band sogar erstmals die Spitze der deutschen Charts. Auf dem letzten „roten Album“ (2015), das sich dem Thema „Liebe“ widmete, schien sich etwas zu ändern. In Stücken wie „Jungfernfahrt“ wurden wieder realistisch anmutende Orte und Situationen einer Jugend besucht und im abschließenden Hidden-Track „Date mit Dirk“ traf sich der Sänger zum Spaziergang mit sich selbst: »Ich will wissen, ob er mich noch mag.«
Zurück zu den eigenen Wurzeln
„Die Unendlichkeit“ ist nun ein autobiografisches Konzeptalbum geworden, das die Lebensgeschichte Dirk von Lowtzows chronologisch nacherzählt. Wir begegnen ihm als verängstigtes Kind am Karussell, als mit E-Gitarre posenden, pickelausdrückenden Teenager vor dem Spiegel und als jungen, aus der „Schwarzwald-Hölle“ entflohenen und in Hamburg angekommenen Mann, der sich vor lauter Euphorie kaum bremsen zu können scheint. Oder besser: Der Sänger begegnet sich selbst und nimmt einen freundlich-beobachtenden, mitfühlenden und dadurch berührenden Blickwinkel auf Episoden seines eigenen Lebens ein. Später kommt es zu Krisen: dem Tod eines engen Freundes, einer sich anbahnenden Suchterkrankung, hysterischer Einsamkeit und sich verändernden intimen Beziehungen. Häufig handeln die Lieder des Albums vom Wunsch nach Verbundenheit – von den Worten »Brich das Schweigen, ruf mich bitte an« im Eröffnungsstück, dem Titelsong, bis zur Textzeile »bitte verlasst mich nicht« am Ende des bereits in die Zukunft blickenden letzten Liedes „Alles was ich immer wollte war alles“. Das Album wurde, wie schon die letzten fünf Alben, gemeinsam mit Moses Schneider produziert. Die Musik pendelt zwischen klassischem Indierock und getragenem Pop, wobei die Songs »spezifische, zeitgebundene musikalische Referenzen« aufweisen, also häufig musikalische Anleihen bei Musik aus der Zeit haben, von der sie handeln. Es gibt eine Vielzahl an Gastinstrumenten zu hören und einige der besten Rick McPhail-Gitarrensoli der Bandgeschichte. [030] Autor Heiko Bartels traf sich mit Schlagzeuger Arne Zank, der nun als letztes der drei Gründungmitglieder nach Berlin gezogen ist, und dem in Hamburg lebenden, im Jahr 2004 zur Band gestoßenen Gitarristen Rick McPhail in den Räumlichkeiten ihres Major-Labels. Neben weiteren Themen sprachen sie über Studioarbeit, die Bedeutung von Musik für das eigene Leben und Apfelkorn.
Wie ist die Idee entstanden, ein Album zu machen, das textlich eine Biografie von Dirks Leben darstellt? Warum sollte es wieder mehr „eins zu eins“ sein?
Arne: Dirk hatte mehrere autobiographische Bücher gelesen, die ihm gut gefallen haben.
Rick: Früher hat ihn das Thema nicht so interessiert, aber er mag es manchmal gerne, sich schwierige Aufgaben zu stellen. Wie beim letzten Album mit dem Thema „Liebe“ und dem Ziel, darüber eine interessante Platte zu machen.
A: Bisher fand er autobiographische Themen eher öde. Er sucht sich solche Themen dann gerne als eine Art Herausforderung, obwohl ihm die Beschäftigung damit gar nicht nahe liegt, oder sogar schwerfällt. Um mal auszuprobieren, was dabei herauskommt.
War es ein klares Konzept, die Musik an der Zeit zu orientieren, von der in den Songs erzählt wird?
A: Das hat sich eher so ergeben. Man hat sich gefreut, wenn es hingehauen und damit nochmal einen speziellen Ausdruck hat.
R: Es war nicht unbedingt Absicht. Manchmal passieren solche Sachen ein bisschen unterbewusst oder aus Zufall.
A: Es war kein Dogma, aber ich glaube Dirk hatte schon beim Schreiben der Songs musikalische Ideen aus den erzählten Situationen heraus. Es war eine neue Möglichkeit, durch die konkreten biografischen Inhalte mit zeitlichen musikalischen Bezügen zu spielen, und da wo es Spaß gebracht hat, haben wir es gemacht. Es war uns in der Produktion aber wichtig, dass es einen Albumsound gibt, der alles zusammenhält. Wir waren nicht so besessen davon, zum Beispiel die Aufnahmebedingungen der 90er Jahre nachzuahmen, das wollten wir nicht so auf die Spitze treiben.
Wie lief das gemeinsame Songwriting? War es weiterhin so, dass Dirk, wie in der Vergangenheit, die Songs schreibt und ihr sie dann gemeinsam weiterentwickelt?
A: Dirk schreibt die Songs für sich wie Folksongs, auf der Gitarre. Neu war, dass er diesmal sehr viele Stücke geschrieben hat, auch einige, die nicht auf die Platte gekommen sind, so dass wir zusammen auswählen mussten. Dirk arbeitet viel mit Jan zusammen, der die Texte ein bisschen lektoriert – die sind da schon so ein Gespann. Wir haben dann gemeinsam geguckt, welche Lieder in die Band passen- dass sie nicht nur persönlich sind, sondern auch eine Popsong-Universalität oder eine Toco-Universalität haben und für uns als Ausdruck auch passen. Im Unterschied zu den vorherigen Platten haben Dirk und ich dann angefangen, die Songs mit Gitarre und Schlagzeug zu arrangieren. Wir haben also Schlagzeug-Arrangements aus gemeinsamen Sessions heraus entwickelt. Das ergab sich dadurch, dass ich auch nach Berlin gezogen bin.
R: Die ersten drei Platten mit Moses (Schneider; Anmerkung der Redaktion) hatten wir quasi als Live-Arrangements mit ihm im Proberaum aufgenommen und dabei mit Aufnahmetechniken experimentiert, das ließ sich für uns nicht mehr steigern. Die letzte Platte ist hingegen eher im Studio entstanden, mit vielen Schichten. Dieses Mal haben wir uns mehr Zeit genommen und die Aufnahmen waren mehr verteilt. Das Schlagzeug wurde bei Moses aufgenommen, die Gitarren bei mir, später kamen der Bass und Overdubs dazu.
In der Vergangenheit hat die Aufnahmedauer eurer Alben sehr variiert, zwischen wenigen Tagen und eineinhalb Jahren. Wie lange habt ihr diesmal aufgenommen?
A: Naja, auch bei Platten, die man in 10 Tagen aufgenommen hat, hatte man ja im Vorfeld im Proberaum gesessen und arrangiert. Aber es war schon eine lange Studiozeit diesmal – insgesamt eineinhalb Jahre. Der Prozess war dadurch schon anders als sonst, weil alles lang in der Schwebe und in Bearbeitung war und immer wieder etwas passiert ist. Man ist zwischendurch in den Urlaub gefahren…
Das klingt ganz entspannt…
A: Ja, auf eine Art schon, weil man die Sache zwischendurch liegen lassen, nochmal drüber schlafen und dann weitermachen konnte. Andererseits war aber eben alles auch bis zum fucking Schluss in Bewegung und man war in einer Spannung und dachte: Was passiert jetzt? Funktioniert das? In welche Richtung geht das?
R: Das hat viel mit der Aufnahmetechnik von Moses zu tun, der sehr kreativ arbeitet und immer wieder kleine Veränderungen vornimmt und am Herumschrauben ist. Irgendwann weiß man dann nicht mehr, was man genau gespielt hat (lacht) und was davon jetzt eigentlich genommen wird. Das war schon bei den eher live aufgenommenen Platten so, dass man dann überrascht war: Das Gitarrensolo habe ich gespielt? Das muss man dann erst wieder nachspielen und lernen. Es ist nichts in Stein gemeißelt und es gibt immer wieder Aktualisierungen. Aber selbst im Endmix durch Michael (Ilbert, Anmerkung d. Redaktion) wird noch mal geschnitten und Sachen werden verändert. Nachdem Moses die Richtung vorgegeben hat, in die man mit dem Sound gehen möchte, macht Michael dann nochmal den Hochglanz drauf und räumt auf. Er ist nochmal wie ein zusätzliches Ohr und sagt dann „Das braucht man alles nicht, das kann weg!“, wenn es zum Beispiel zu kakophonisch ist und zu viele Sachen auf einmal passieren. So hat man dann mehrere Proofreader, die nochmal drüber gehen. (lacht)
Ihr habt schon erwähnt, dass ihr in der Vergangenheit mit unterschiedlichen Aufnahmetechniken experimentiert habt. Hattet ihr diesmal bestimmte Ideen oder Ansätze für das Klangbild?
R: Diesmal haben wir sehr digital aufgenommen. Zeitgemäß. Mit allen Möglichkeiten. (lacht)
A: Topmodern! Für unser Alter! (beide lachen)
R: Es kamen diesmal noch einige Gastmusiker dazu.
A: Bei einigen gab es schon länger die Idee zur Zusammenarbeit, anderes ergab sich im Prozess.
Haben euch die Songs durch den biografischen, sehr persönlichen Ansatz der Texte stärker berührt als zuvor? Habt ihr euch anders miteinander auseinandergesetzt und auch über die eigene Biografie nachgedacht, während ihr mit Dirk sozusagen sein Leben aufgearbeitet habt?
A: Ich würde das schon sagen. Ich erinnere mich, dass ich es schon sehr privat fand, als er uns die Songs ganz zu Anfang vorgespielt hat.
R: Aber weniger für uns als für andere Zuhörer, oder?
A: Ich fand es schon merklich berührend, oder anrührend, und vielleicht schon mehr als manches vorher. Und man hat dann schon verglichen und musste vielleicht eher ein bisschen aufpassen, dass man nicht nur in eine Rückschau geht, sondern auch in der Gegenwart guckt, wo man jetzt damit steht. Dirk hat da aber auch nicht so einen Sinn für Nostalgie, sondern erzählt ja auch aus der Jetzt-Perspektive.
Habt ihr denn persönlich biografische Parallelen zu Dirks Leben entdeckt? Ich meine mich zum Beispiel auch zu erinnern, obwohl ich 10 Jahre später geboren bin, wie im Song „Electric Guitar“ beschrieben einmal mit Apfelkorn an der Bushaltestelle gesessen zu haben…
A: Apfelkorn wird irgendwie nach wie vor gerne von Jugendlichen konsumiert. Knallt gut, aber schmeckt eben noch ein bisschen nach Limo. (lacht)
R: In Amerika ist Alkohol in jungen Jahren ja etwas schwieriger zu bekommen und Apfelkorn gibt es, glaube ich, sowieso nicht. Eher andere bewusstseinserweiternde Substanzen. (lacht)
Aber klar, ich glaube, wir haben schon alle eine ähnliche Jugend gehabt. Arne und Jan waren zwar eher Punks aus der Großstadt, während Dirk und ich eher Indie-Popper waren und in kleineren Städten aufgewachsen sind. Aber da gibt es schon gewisse Ähnlichkeiten, wie man aufgewachsen ist.
Ist Musik denn für euch auch ein Vehikel gewesen, um sich, zumindest gefühlt, zu befreien und auszubrechen?
R: Ja, klar. Und man hat durch Musik auch wahnsinnig viel gelernt über die Welt. Man hat Filme oder Bücher kennengelernt. Bei fast jeder Smiths-Platte musste man recherchieren, was da jetzt auf dem Cover zu sehen ist, aus welchem Film zum Beispiel das Motiv stammt. Ich war auch offen dafür und wollte eine weitere Welt sehen als die Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin. Das war auch die Zeit, in der man stundenlang Musikvideos im Fernsehen sehen konnte, auf MTV. Wir sind ja vermutlich die erste und einzige Generation, für die Musikfernsehen so eine Bedeutung hatte. Ich bin von der Schule nach Hause gekommen und hatte dann diese Bilder und die Musik. Es war auch viel offener, was da gespielt wurde, weil es noch gar nicht so viele Videos gab. Man hat dann Bands gesehen, wie Devo oder die Talking Heads, aber eben auch Michael Jacksons „Thriller“. Es war sehr durchmischt und schon eine interessante Zeit.
Glaubt ihr, es gibt eine unterschiedliche Prägung, je nachdem, ob man in der Provinz oder in der Großstadt aufgewachsen ist? Merkt ihr Unterschiede untereinander in der Band?
(Beide lachen.)
A: Das ist eine Fangfrage…
R: Das unterscheidet sich von Person zu Person. Viele Menschen wollen aus der Kleinstadt weg und viele nicht. Ich habe für mich persönlich dann aber auch gemerkt, nachdem ich von Maine nach San Francisco gezogen bin und dort eineinhalb Jahre gelebt habe, dass mir die amerikanische Großstadt zu gefährlich ist. Es war mir die Sache nicht wert, für die Kultur zu sterben, die da angeboten wird. Dann bin ich nach Wuppertal gezogen, auch eine viel größere Stadt, als die, in der ich aufgewachsen bin. Aber es war auch ein bisschen wie in Maine, dass man DIY-mäßig selber Bands gründen musste, weil es keine guten gab. Es war nicht alles vorgefertigt, in dem Sinne, dass man aus der Tür fallen und sofort einen guten Film sehen konnte. Es gab nicht so ein Überangebot und man musste dadurch vielleicht kreativer sein. Ich merke aber schon, dass mir eine Stadt wie Berlin zu groß ist. Ich mag Hamburg lieber, weil es ein Zwischending ist, was die Größe betrifft.
A: Aber auch in Hamburg haben wir wahnsinnig viel selber gemacht, da gab es auch diese DIY-Kultur, wenn man sich für Underground-Sachen interessiert hat, die man nicht so einfach finden konnte. Es ist aber schon ein Unterschied: Jan und ich hatten Bands, die wir total super fanden, vor der Haustür, das fand ich total beglückend. Die Bands waren um die Ecke. Es gab dann schon immer so ein komisches Lokalszene-Gefühl: Die beste Musik kommt hierher! Das war das Tollste. Aber eben auch alles Hardcore-, Punk- oder Indie- und DIY-Underground-Bands, die alles selber zusammengepresst und kopiert haben, was man dann auch gemacht hat. Darüber war der Anschluss auch sehr einfach: Man hat gesehen, das kann man auch selber machen, so wie die anderen.
R: Das meinte ich: Es hängt vom Menschen ab und davon, wie man inspiriert wird. Der eine wird vielleicht aus Langeweile aktiv, der andere, weil er jemanden gesehen hat, der etwas macht. So wie im Musikfernsehen.
A: Man kann auch in der Stadt einfach im Publikum stehen und es super finden und dann nach Hause oder ins Büro gehen. Es kommt eben darauf an, ob man so beknackt ist, dann zu denken: Ich will auch auf die Bühne da! Das ist dann der Schatten, oder der psychische Fehler, der uns zusammengeführt hat. (lacht)
Wenn ihr jetzt am Ende einer Plattenproduktion auf die nächsten Monate schaut, mit Promotion und Tournee, worauf freut ihr euch am meisten?
R: Auf Tour zu gehen finden wir super, ich freue mich darauf. Wir proben jetzt schon einige Zeit, wir haben diesmal relativ früh angefangen. Das macht Spaß, aber man möchte dann irgendwann am Ende auch ein Klatschen hören. (lacht)
A: Wir hatten ja auch während der Produktion in den letzten eineinhalb Jahren keine Konzerte, das fehlt einem dann irgendwann schon. Man ist dann so sehr für sich…
R: …playing with ourselves… (beide lachen)
A: …ist mal schön, reicht dann aber auch. Dass man da wieder drüber quatschen kann und sich das Leute anhören und es gut oder schlecht und im besten Fall schön finden, das macht schon sehr viel Spaß.
Eine letzte Frage: Wenn ihr im Sinne der musikalischen Biografie einen Song schreiben müsstet über die aktuelle Phase, in der ihr steckt, wie würde der heißen.
A: Vielleicht „Männliche Menopause“? Die steht ja an. Die 50 kommt auf einen zugerast, mit schnellen Schritten.
Vielen Dank für das Interview!
Interview: Heiko Bartels
Titelfoto: © Michael Petersohn/UniversalMusic
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