Berlin im Februar 2017. Minus sieben Grad. Arschkalt. Wege von A nach B bringt man schnell hinter sich. Sofern man weiß, wohin man gehen soll. Selina (21) und Neco (20) wissen das nicht. Zumindest nicht immer. Sie sind Straßenkids.

Wir treffen Selina und Neco in einer Anlaufstation für junge Obdachlose in Berlin-Pankow. Hier können sie behördlichen Angelegenheiten klären, Wäsche waschen, ein warmes Getränk zu sich nehmen oder einfach nur mit jemandem reden, der nichts von ihnen will. Jemand, der zuhört und nur bei Bedarf Hilfestellung leistet. »Wir machen keinen Druck. Wir haben auch kein Druckmittel«, so Streetworkerin Ines Formaçon (Interview Seite 12). Der Ausbruch aus der Fremdbestimmtheit ist, neben der Flucht aus den gewalttätigen oder drogenbelasteten Umfeldern, mitverantwortlich für die aktuelle Situation der Jugendlichen. Nach inoffiziellen Schätzungen des BAG Wohnungslosenhilfe e.V. sind rund 32.000 Jugendliche in Deutschland obdachlos. In Berlin rechnet man mit rund 4000 Fällen.

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Ohne nachweisbaren Wohnort und feste Arbeit keine neue Wohnung. Negative Schufa-Auskünfte und fehlende Mietschuldenfreiheitsbestätigungen werden jedoch bereits zuvor zur Hürde auf dem Wohnungsmarkt. Was dann bleibt, ist nur noch der Schlafplatz unter der Brücke, im Park oder verlassenen Häusern. Wer mehr Glück hat, kommt bei Freunden oder zeitweise in einer zugewiesenen Einrichtung unter.

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Was treibt einen Teenager auf die Straße?

Selina, selbstbewusstes Auftreten, pinke Kurzhaarfrisur, landete nach eigener Aussage als Kind im Heim, weil es zwischen ihr und der Mutter, die ebenfalls eine Straßenkarriere hinter sich hatte, regelmäßig zu gewalttätigen Übergriffen kam. Nachdem sie ihre Mutter wegen schwerer Körperverletzung angezeigt hatte, schritt das Jugendamt ein und ordnete die Heimunterbringung an. Für Selina der Einstieg in ein behördlich reglementiertes Leben. Mit 14 hat sie davon die Schnauze voll. Sie haut ab. Tauscht ihren gesicherten Schlafplatz gegen das unstete Leben auf der Straße.

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Wer nicht direkt auf der Straße wohnt, sondern bei Freunden und Bekannten unterkommt, taucht nicht im Obdachlosenmilieu auf. Das Deutsche Jugendinstitut spricht von sogenannten „Sofahoppern”, die sich abgekoppelt vom System durchschlagen. Derzeit geht man von etwa 20.000 jugendlichen Fällen bundesweit aus. Viele von ihnen haben die Ausbildung abgebrochen, sind von zu Hause abgehauen und damit für Sozialarbeiter schwer erreichbar.

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[su_quote cite=“Selina (21)“]Um anzukommen, haben Drogen eine große Rolle gespielt.[/su_quote]

Sie stürzte ab. Geriet in die Drogenszene und landete schließlich für eineinhalb Jahre in einem geschlossenen Entzug. Jetzt nehme sie keine Drogen mehr, aber »um anzukommen, um sich selber zu finden« haben Betäubungsmittel in dieser Zeit «eine große Rolle gespielt«. Es folgen Stationen in Hamburg, Dänemark und schließlich Berlin, wo sie heute in einem ausrangierten LKW lebt. Sie träumt davon, einen Führerschein zu machen und mit ihrem Gefährt bis nach Panama zu reisen. 

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Wohnungslose sind keine homogene Gruppe. Problemlagen müssen daher individuell betrachtet werden. Fest steht jedoch: Ein riskanter Alkohol- und Drogenkonsum ist weit verbreitet – sei es die Ursache für die Obdachlosigkeit oder eine Folgeerscheinung, um sich im Rausch zu flüchten. Führt der Griff erst mal zu Crack und Heroin, ist der Teufelskreis vorprogrammiert.

 

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Heile Familie. Kaputtes Weltbild.

Freundin Neco ist noch nicht so lange auf der Straße. Vor drei Jahren, mit 17, flüchtete sie vor ihren Eltern – beide praktizierende Zeugen Jehovas. Deren Maxime: Gott sieht alles und bestraft all jene, die sich seinem Willen nicht beugen. Neco wollte das nicht länger ertragen. Den Streit. Die Angriffe. Die Demütigungen. Mit einem Bekannten flüchtete sie nach Hamburg. Hier lernten sich die beiden jungen Frauen kennen. »Am Anfang konnte ich sie nicht leiden. Das lag gar nicht an ihr. Ich bin stutenbissig. Ich mag keine Weiber«, erzählt Selina mit einem breiten Lächeln. Neco, die zurückhaltendere der beiden, mit Piercings im Gesicht und strahlenden Augen, nickt zustimmend. »Ich hatte noch keine Ahnung, wie es auf der Straße abläuft.« Doch sie biss sich durch. Das imponierte der 21-jährigen Selina. »Ich hab richtig exzessiv Drogen genommen, sie gar nicht. Ich hab auf der Straße gepennt, sie nur ein paar Tage. Wir haben null gemeinsame Vergangenheit, vertrauen uns aber total und sind heute beste Freundinnen.« 

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Das Recht auf angemessene Ernährung ist völkerrechtlich verankert. In der Praxis sieht es oft anders aus: Für Menschen auf der Straße beginnt der Kampf um eine warme Mahlzeit jeden Tag aufs Neue. Soziale Einrichtungen, die sich um Essensausgabe für diese Menschen leisten einen wichtigen Dienst, sind jedoch durch fehlende freiwillige Helfer und Spenden stark eingeschränkt.

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Zweckgemeinschaft ersetzt Freundschaft.

Auf der Straße ist Freundschaft ein rares Gut. »Ich penn bei nem Kumpel«, heißt es auf der Suche nach einem Schlafplatz. Im Klartext heißt das, man packt sich bei irgendjemanden in die Ecke. Augen zu und durch. Echte Freundschaften, wie sie Selina und Neco für sich beanspruchen, sind selten. Gerade als Mädchen oder junge Frau gerät man schnell in Abhängigkeiten, berichtet Ines Formaçon von den Off Road Kids: »Es gibt junge Mädchen, bei denen das eine Art Prostitution ist. Die sehen das selber nicht. Doch wenn die immer bei einem Typen pennen, dann will der natürlich Sex«. Für die erfahrene Streetworkerin sind solche Beziehungen eine Zweckgemeinschaft. Der Traum nach Sicherheit und Familie kommt bei vielen schnell ins Spiel. »Nach zwei Wochen heißt es dann: Ich will mit meinem Freund zusammen ziehen! Dann frage ich: Wie heißt der denn? Dann kommt: Schwalbe! Den richtigen Namen kennt sie nicht« Bei Selina hat das zu einer gesunden Grundskepsis gegenüber allzu hilfsbereiten Zeitgenossen geführt. »Ich hab immer die Vermutung, der will was, weil er nett ist. Das können die vergessen. Ich habe mich nie verkauft.« 

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In fast allen Fällen ist die Einkommenssituation obdachloser Menschen prekär. Zwar haben die meisten Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe, wenn die eine Postadresse wie die der Beratungsstelle gesichert ist, allerdings ist der Zugriff auf ein Bankkonto nur selten gegeben. Spenden- und Flaschensammeln wird so für das Überleben unabdingbar. Durch Telefonverträge, Schwarzfahren oder Drogen häufen sich oftmals zusätzliche Schulden an.

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[su_quote cite=“Neco (20)“] Wirkst du schwach auf andere, bist du angreifbar.[/su_quote]

2016 wurden 17 Obdachlose in Deutschland getötet. Weitere 140 Fälle von körperlicher Gewalt gegen wohnungslose Menschen stehen zu Buche. Der Gang zur Polizei bleibt oft aus. Die Dunkelziffer der Übergriffe dürfte demnach weit höher liegen. Die Gefahr einer gewaltsamen Konfrontation für Menschen ohne feste Bleibe, ohne privaten Rückzugsraum, ist allgegenwärtig. Wie gehen die beiden Mädchen damit um? Selina und Neco bauen in erster Linie auf Abschreckung. Ihre vierbeinigen Begleiter Akira und Dackel sind ihre ständigen Begleiter. »Mit einem großen Hund, der richtig Eindruck macht, ist es einfacher. Man hat dann immer jemanden, der im Notfall unterstützt«. Dass Neco in Frankfurt unter der Friedensbrücke einmal zusammengetreten wurde, konnte aber auch Dackel nicht verhindern. Ihrer Meinung nach hätte das jedem anderen auch passieren können. »In Berlin zünden sie sogar Obdachlose im Schlafsack an. Wirkst du schwach auf andere, bist du angreifbar und wirst sofort bestraft. Scheiß egal, ob du Junge oder Mädchen bist.«


Fotos: Alexander Indra