„Ein Mann, eine Gitarre, eine Kamera“ – unter diesem Motto hat sich der britische Filmemacher, Fotograf und Musiker Jim Kroft im Februar 2016 mit seinem Van nach Lesbos und Idomeni begeben. Herausgekommen ist das neue Album “Journeys #3“, das zwischen Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft und Verzweiflung die Geschichten des Aufenthaltes verarbeitet. Begleitet von emotionalen Foto- und Videoaufnahmen sowie einer Fundraising-Aktion, mit der ein Rettungsboot für Flüchtlingshelfer gebaut werden konnte, ist ein inspirierendes politisches Album entstanden, das viele Fragen aufwirft. Was hält Europa zusammen? Warum schauen wir weg, wenn Menschen an unseren Küsten sterben? Und wie kann jeder einen kleinen Beitrag zum Besseren leisten? Fragen, auf die Jim Antworten sucht.
Erinnerst du dich noch an den Moment, in dem dir klar wurde, dass du aufbrechen musst?
Ja, alles fing damit an, dass ich mich unglaublich passiv und machtlos gefühlt habe als letztes Jahr die sogenannte Flüchtlingskrise immer mehr zum Thema wurde. Ich wollte helfen, wusste aber nicht wie. Als ich im November aus Russland kam, habe ich viel über Flucht, ISIS und wie die Medien darüber berichten nachgedacht. Mein guter Freund Basti Fischer meinte, dass wir jetzt helfen müssen. Wir hatten seit Monaten darüber gesprochen. Plötzlich wusste ich: Wenn nicht jetzt, dann nie.
Ist dir an diesem Punkt schon bewusst gewesen, was du mit deiner Dokumentation anstoßen kannst?
Nein, gar nicht. Ich dachte: "Ich bin Musiker, was kann ich schon beitragen?". Ich hatte keine Ahnung, ob ich als Mensch helfen kann, und erst recht nicht, ob ich als Person mit meiner Musik und Fotos etwas Sinnvolles beitrage. Es ging nie darum, Songs zu schreiben. Erstmal wollte ich wissen, was wir lernen können. Ich selber halte mich für einen Newsjunkie, aber als ich dort war, habe ich gemerkt, was für Wissenslücken ich habe. Erst in Berlin habe ich überlegt, wie ich das künstlerisch interpretieren kann.
Hattest du zwischendrin Angst, nicht den richtigen Ton zu treffen? Immerhin ist es keine leichte Aufgabe, den Geflüchteten eine Stimme zu geben und das Schreckliche in schönen Songs angemessen zu verarbeiten.
Absolut, diese Angst war da. Das war eine spirituelle und künstlerische Herausforderung. Bei allem, was derzeit politisch passiert, verschließen wir viel zu oft die Augen und geben Ressentiments den Nährboden. Spricht man mit Betroffenen und teilt deren Geschichten, schaltet man Angstmechanismen aus. Genau das wollte ich. Einige dieser Menschen haben die verzweifeltsten Momente ihres Lebens mit mir geteilt. Es liegt in meiner Verantwortung, diese Geschichten zu verbreiten und von ihrem Mut zu berichten, um andere zu inspirieren.
Wie hat man vor Ort auf dich als Beobachter reagiert? Ein weißer, privilegierter Typ der westlichen Gesellschaft, der jederzeit zurück nach Hause könnte – herrschte da Misstrauen oder hat man dir vertraut?
Das war auch meine Sorge, aber dem war nicht so. Es gab unglaublich viele Leute, die mit mir reden wollten – manchmal auf einem sehr persönlichen Level, manchmal, weil Helfer benötigt wurden, und manchmal, um schlicht Informationen einzuholen. Alle waren sehr interessiert und hatten stichhaltige Perspektiven. In drei Wochen entwickelten sich richtige Freundschaften.
Für mich stellt sich da die Frage, bis zu welchem Punkt die Kamera als emotionales Schutzschild dienen kann und das Fotografieren als stiller Beobachter noch ethisch vertretbar ist. Warst du in einer Situation, in der du dich zwischen deiner Objektivität und dem Eingreifen entscheiden musstest?
Das ist ein interessanter Punkt. Diesen Konflikt gab es tatsächlich auch bei mir als ich Sara gefunden habe. Daraus ist hinterher der Opener der Platte entstanden. Wir waren nachts um drei am Strand, um zu dokumentieren. Plötzlich kam dieses Boot. Die See war unruhig und überall waren völlig unterkühlte Menschen, die Hilfe benötigten. Auf einmal lag dieses zitternde Mädchen vor mir. Bei Naturdokus kann man vielleicht noch sagen, dass man nicht involviert wird. In diesem Fall ist man definitiv Teil des Ganzen. Ich habe sie instinktiv aufgehoben. Genau in dem Moment habe ich die Kamera abgelegt – und mit ihr die Objektivität.
Was ging in diesem Moment in deinem Kopf vor?
Ich dachte nur „Fuck, was mache ich jetzt?“. Es gab weder genug Helfer, noch genug medizinische Versorgung. Ich war alleine und wusste nicht, wie ich jemanden retten soll. Da war auch eine Art Zurückhaltung und die Frage nach dem Warum. Plötzlich rollten ihre Augen nach hinten. Ich habe sie gewärmt und zum Glück kam sie wieder zu sich. Die Tage danach fühlte ich nur noch Wut. Warum gibt es nicht mehr Hilfe? Das war ein politisches Erwachen für mich – der Moment, der alles in meinem Leben verändert hat. Plötzlich hatte ich die Antwort auf die Frage, wie man einen Beitrag leisten kann.
Nach all dem, was du erlebt hast: Was ist dein größter Kritikpunkt hinsichtlich der EU-Flüchtlingspolitik?
Ich habe großen Respekt vor der EU. Dennoch glaube ich, dass viele in den Regierungen vergessen haben, was uns eigentlich zusammenhält. Wissen wir nicht mehr, was das Fundament Europas ist? Mir ist es egal, ob jemand denkt, dass alle Flüchtlinge zurückgeschickt werden sollten oder dass alle Grenzen geöffnet werden müssten. Ich sehe nur, dass es ein großes Problem gibt, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Menschen sterben an den Küsten. Wie können wir es mit all unserem Wohlstand und einer so großen Organisation wie der EU zulassen, dass so etwas auf unseren Meeren passiert? Ich war schockiert davon, dass es abgesehen von Grenzschließungen keinerlei Reaktionen seitens der EU gab.
Zurück in Berlin bist du sofort ins Studio und hast innerhalb von 48 Stunden „Journeys 3“ aufgenommen.
Ja, ich wollte das Erlebte sofort festhalten. Sich hinzulegen hätte sich falsch angefühlt. Ich bin Donnerstag zurückgekommen und Freitag und Samstag ins Blackbird Studio. Dort hatte ich den Support von vielen Musikern. Das war wunderbar. Wir haben alles live eingespielt und klar hört man kleine Makel, aber fuck it – wenigstens ist das real.
Abgesehen von dem erfolgreichen Fundraising – welchen Effekt erhoffst du dir von deiner Arbeit?
Mit geht es um Austausch. Ich will nicht ganz viele Gigs spielen und eine Rock ‘n‘ Roll-Show hinlegen, ich will Diskurse anregen. Ich will, dass wir alle über unser eigenes Leben nachdenken. Ich meine, schau uns an: Wir sitzen hier, trinken Kaffee und habe alles, was man braucht. Wovor haben wir Angst? Wir leben eigentlich in einem verdammt guten Land. Das muss uns mal wieder klar werden.