Online-Therapie
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Online Psychotherapie vs. stationär: Nicolas Sander erklärt, was Berliner bei seelischen Krisen wirklich brauchen

Der Alltag ist für viele mit hohem Druck verbunden. Steigende Lebenshaltungskosten, beruflicher Stress und eine konstante Reizüberflutung führen bei immer mehr Menschen zu psychischen Belastungen wie Erschöpfung oder Angstzuständen. Der Bedarf an professioneller Unterstützung ist enorm, doch das Hilfesystem der Hauptstadt ist überlastet. Laut aktuellen Erhebungen der Psychotherapeutenkammer warten Patienten in Berlin durchschnittlich fast fünf Monate auf einen Therapieplatz – eine für viele Betroffene unerträglich lange Zeit.

Genau hier setzt die Online-Psychotherapie an: Sie verspricht schnelle Hilfe ohne Anfahrtsweg und monatelanges Warten. Eine verlockende Alternative, aber ist sie für jeden der richtige Weg? Nicolas Sander, Psychologischer Psychotherapeut und Leiter der Privatpraxis „Freiraum“ in Berlin-Mitte, gibt im Interview seine Einschätzung ab. Für seine eigene Praxis hat er einen klaren Fokus: Während andere eine stationäre Behandlung bevorzugen, bietet Freiraum Psychotherapie auf Online-Psychotherapie.

Herr Sander, für viele Menschen klingt Online-Therapie nach der perfekten Lösung: schnell, flexibel, von zu Hause. Was sind die klaren Vorteile und wo lauern die Nachteile?

Nicolas Sander: Die Vorteile liegen auf der Hand und passen perfekt zum Berliner Lebensstil. Erstens: die Geschwindigkeit. Sie können oft innerhalb von Tagen einen ersten Termin bekommen, statt monatelang auf der Warteliste einer Kassenpraxis zu stehen. Zweitens: die Flexibilität. Ob aus dem Home-Office in Pankow oder spätabends nach einem langen Tag in einer Agentur – die Hürde, den Termin wahrzunehmen, ist minimal. Der größte Nachteil ist zugleich die Kehrseite: Sie bleiben in Ihrem Umfeld. Wenn Ihr Zuhause kein sicherer, ruhiger Ort ist oder Sie permanent durch Job und Familie getriggert werden, fehlt der schützende Abstand, den eine Klinik bietet.

Und wann ist dann im Gegenzug der stationäre Weg, also die „Auszeit in der Klinik“, die unumgängliche Option?

Nicolas Sander: Ein stationärer Aufenthalt ist immer dann notwendig, wenn eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung besteht, beispielsweise bei Suizidgedanken. Ebenso, wenn die Krise so tiefgreifend ist, dass der Alltag nicht mehr bewältigt werden kann. Der unschätzbare Vorteil einer Klinik ist das multimodale Konzept: Sie haben dort nicht nur Einzel- und Gruppentherapie, sondern auch Ergotherapie, Sozialberatung und ärztliche Betreuung in einem engmaschigen Netz. Der Nachteil ist natürlich die lange Wartezeit und die komplette Herauslösung aus dem Leben, was die Rückkehr in den Alltag später zu einer eigenen Herausforderung machen kann. Man muss das Gelernte erst wieder in die „reale Welt“ übertragen.

Ihre Praxis ist eine Privatpraxis. Das klingt für viele erstmal teuer. Bietet das Selbstzahlermodell, gerade im Online-Bereich, vielleicht sogar einen entscheidenden Vorteil?

Nicolas Sander: Absolut. Der entscheidende Vorteil ist, dass wir bei Freiraum Psychotherapie die Hilfe dann leisten können, wenn sie gebraucht wird: sofort. Viele meiner Klienten sehen es als Investition in ihre Arbeitsfähigkeit und Lebensqualität. Sie sagen sich: „Ich kann es mir nicht leisten, noch vier Monate auf Hilfe zu warten.“ Die Kosten sind transparent, die Behandlung ist nicht durch externe Budgets limitiert und wir können uns ganz auf die Inhalte konzentrieren, ohne uns durch aufwendige Antragsverfahren bei den Kassen zu kämpfen. Diese Unabhängigkeit ist ein Kernvorteil, der schnelle und maßgeschneiderte Hilfe erst ermöglicht.

Bleibt die Sorge vor der Distanz. Wie kann man online eine Verbindung aufbauen, die tief genug ist, um wirklich etwas zu verändern?

Nicolas Sander: Eine gute therapeutische Beziehung basiert auf Vertrauen, Empathie und dem Gefühl, wirklich gesehen zu werden. Das ist keine Frage des Raumes, sondern der Haltung. Ich erlebe oft, dass Klienten sich in ihrer gewohnten Umgebung sogar schneller öffnen. Die Kunst des Therapeuten ist es, auch über den Bildschirm hinweg sehr präsent zu sein, genau zuzuhören und auch die feinen nonverbalen Signale wahrzunehmen. Die Wirksamkeit ist durch Studien gut belegt. Es ist anders, aber es funktioniert – vorausgesetzt, die Chemie zwischen Klient und Therapeut stimmt, genau wie in einer Präsenztherapie auch.

Was wäre Ihr konkreter Rat für einen unserer Leser, der gerade jetzt das Gefühl hat, es nicht mehr allein zu schaffen?

Nicolas Sander: Der erste Schritt ist der Mutigste: sich einzugestehen, dass man Hilfe braucht. Greifen Sie zum Telefon oder schreiben Sie eine E-Mail. Suchen Sie sich ein psychotherapeutisches Erstgespräch – ob online oder in einer Praxis. Allein diese erste Kontaktaufnahme kann schon eine enorme Entlastung sein. In diesem Gespräch kann ein Profi dann gemeinsam mit Ihnen klären, welcher Weg – online, ambulant vor Ort oder stationär – für Ihre ganz persönliche Situation der richtige ist. Warten Sie nicht, bis es gar nicht mehr geht.

Herr Sander, wir danken Ihnen für das aufschlussreiche Gespräch.

Du brauchst Hilfe? Innezuhalten und den ersten Schritt zu tun, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern der mutigste Akt der Selbstfürsorge. Die Entscheidung, ob online oder stationär, muss man nicht alleine treffen – aber die Entscheidung, sich überhaupt Hilfe zu suchen, kann einem niemand abnehmen.

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