Karl Bartos ist ein Pionier der elektroakustischen Musik. Der Musiker, Komponist, Dichter und Filmemacher war von 1975 bis 1990 Mitglied bei Kraftwerk. Während seiner Zeit bei den legendären Düsseldorfer Elektronikern sind so bahnbrechende Alben wie „Trans Europa Express“ (1977), „Die Mensch-Maschine" (1978) und „Computerwelt" (1981) entstanden. Als Mitautor von Songs wie „Das Model", „Die Roboter", „Nummern" und „Taschenrechner" hat Bartos großen Einfluss auf die elektronische Musik bis heute.
1990 stieg Karl Bartos bei Kraftwerk wegen künstlerischen Differenzen wieder aus und widmet sich seiner Solo-Karriere. Der ehemalige Gastprofessor der Berliner Universität der Künste gibt immer noch audiovisuelle Konzerte und hat aktuell sein erstes Solo-Album „Communication“ von 2003 wiederveröffentlicht. Wir treffen Karl Bartos im März 2016 zum Interview im Berliner Art Deco-Hotel Savoy und sprechen mit ihm über den Reload seines „Pop-Klassikers“, seine Zeit bei Kraftwerk, die Kraft der Musik, neue Medien und soziale Netzwerke.
Herr Bartos, „Communication“ ist Ihr erstes Solo-Album und ursprünglich 2003, also 13 Jahre nach Ihrem Ausstieg bei Kraftwerk, erschienen. Es klingt sehr stark nach den Alben, die während Ihrer Zeit dort entstanden sind. Konnten Sie sich nicht davon lösen?
Nun, es ist einfach so, dass Kraftwerk zu der Zeit, in der ich da war, auch nach Karl Bartos klingt. Ich klinge halt so (lacht). Dieses Album ist eigentlich mein Konzertprogramm. Das Millennium war dafür der Kickoff. Ich habe um 2000 herum damit begonnen, es zu komponieren. Ich wollte live spielen und in meinem Programm befinden sich Songs wie „Das Model“, „Die Roboter“, „Tour de France“ und „Trans Europa Express“.
Das sind Kraftwerk-Songs, die Sie mitkomponiert haben.
Das sind relativ bekannte Stücke und ich brauchte eigene Songs, die dazu passen. Wir haben neulich im Berghain in Berlin gespielt und ich habe das Konzert mit „I‘m the Message“ begonnen. Das ist mein Corporate Identity-Song. Wenn man als Künstler auf die Bühne geht, dann sagt man, wer man ist: Schaut mich an, ich bin die Botschaft und mache hier heute Abend ein Konzert in Bild und Ton.
Der Vocoder kommt auf „Communication“ sehr oft zum Einsatz. Sie scheinen dieses Stimmenverfremdungsgerät sehr zu mögen.
Ich habe das etwas übertrieben: Ich hatte 16 Songs und die mit Vocoder sind übriggeblieben. Um die Balance zu wahren, habe ich noch drei oder vier andere auf dem Album. Wenn man Texte zu Musik schreibt, dann kann man das nicht nur in der ersten Person Singular machen, man braucht auch andere Perspektiven. Die Figuren, die bei mir als Sänger auftreten, sind Charaktere, die ich wie Schauspieler sehe. Und wenn ich einen Vocoder benutze, dann muss ich das nicht selbst sein. Die erste Person Singular kann natürlich auch ein Gefühl, das ich in mir habe, zum Ausdruck bringen, oder auch wie ein Journalist sein, indem ich sage: „Da ist ein Model und sie sieht gut aus“. Dann bin ich nicht die erste Person Singular, sondern dann spreche ich über eine andere Person. Und so gibt es die verschiedenen Perspektiven, eine Geschichte zu erzählen – narrativ. Wie im Film treten verschiedene Sänger auf, die aus verschiedenen Winkeln die Welt erklären. Und bei dem Vocoder ist das besonders interessant, weil er die Position der Technik einnehmen kann. Der kann dann plötzlich sagen: "Ich bin ein Fotoapparat". Ich benutze Worte teilweise wie Musik, auch wegen ihres Klangs.
Sie waren über 15 Jahre Mitglied bei Kraftwerk. Viele sehen diese Zeit zwischen 1975 und 1990 musikalisch als deren beste Phase an. Sie auch?
Das hängt mit der Digitalisierung zusammen. Das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt. Wir haben Mitte der 70er-Jahre mit analogen Instrumenten angefangen und das wichtigste Aufzeichnungsmittel der Elektroakustik war das Magnettonbandgerät. Wir spielten im Kling-Klang-Studio, manchmal zu dritt wie Kammermusiker, jeder vor seinem Synthesizer. Florian hatte noch ein Mikrophon mit Sprachsynthese und einem Vocoder. Wir haben uns dabei in die Augen geguckt und uns Zeichen gegeben. Auf diese Art und Weise haben wir ein Album produziert: Das hieß „Computerwelt“. Es war die Imagination, wie die Computerwelt sein wird. Jenseits der Digitalisierung, 1986 kaufte ich mir meinen ersten IBM RT Computer für 12 Tausend Mark. Der konnte damals weniger als dieses kleine Gerät, das gerade unser Interview aufzeichnet (lacht). Und dann begann etwas, das unser Sozialverhalten änderte: Wir saßen in einer Reihe, vor uns der Computer und wir haben auf den Bildschirm geguckt, eine Person hatte eine Maus in der Hand. Das war das Interface auf die Timeline. Es gab keine Kommunikation mehr. Wir haben zwar gesprochen, aber uns nicht mehr angesehen, sondern Daten in den Computer eingegeben. Wir waren nicht in der Lage, unser altes Sozialverhalten in die virtuellen Räume zu transportieren. Ich will nicht sagen, dass das nicht geht, aber wir haben das nicht weitergeführt.
Kraftwerk und damit auch Sie haben einen großen Einfluss auf die elektronische Musik bis heute. Kürzlich hatte ich ein Interview mit Karl Hyde, dem Sänger von Underworld, und er sagte, dass die Musik von Kraftwerk für ihn alles verändert habe.
Ich kenne Karl Hyde. Er war 1990 bei mir im Studio. Da waren Underworld noch gar nicht berühmt und er hatte die Weißmuster des ersten Albums unterm Arm. Das ist ein extrem toller Kollege. Er hört Musik und denkt dabei.
Erfüllt Sie das mit Stolz, einer der Urväter der elektronischen Musik zu sein?
Das höre ich ja ständig, aber das ist mir ziemlich egal. Wenn ich anfangen würde, darüber nachzudenken, dann würde mich das ja beeinflussen. Das ist völliger Quatsch. Ich sehe das eher wie Keith Richards, der sagt, wenn er ein Bluesriff von Chuck Berry spielt, dann entwickelt es sich in ein paar Minuten zu seinem eigenen Gitarren-Lick. Also es gibt nicht den einen herausragenden Musiker, der irgendwann mal irgendwo dieses tolle Gitarren-Lick gespielt hat. Das hängt alles zusammen. Der Blues hat auch europäische Wurzeln. Die Kadenz kommt aus Europa und die Seele von den Afroamerikanern, die ihren Schmerz herausgeschrien haben. Und dann haben die Stones den Blues wieder zurück nach Europa importiert. Als ich damals als 22-jähriger Musikstudent zu Kraftwerk kam, war das für mich eine Traditionsband, komplett in der Tradition der romantischen Musik. Das sind romantische Melodien, die auf der Musik des 19. Jahrhunderts wurzeln. Es wurzelt auch in der Elektroakustik der Nachkriegszeit, der Futuristen zu Beginn des 20 Jahrhunderts, der Musique Concrète. Karlheinz Stockhausen, Popmusik, Velvet Underground – das sind alles tradierte Werte. Der Witz war der Mix. Und dass ein System das andere nicht ablöste, sondern dass es vermixt wurde. Das war das Geheimnis.
Ende 1990 sind Sie bei Kraftwerk ausgetreten, weil Sie keine Erneuerung mehr erkennen konnten. Es sei nichts Künstlerisches mehr hervorgegangen. Was hätte passieren sollen, damit sie in der Band geblieben wären?
Wir hätten in den 80er-Jahren vor allen Dingen mal Konzerte spielen sollen. Kraftwerk ist die Band, die komplett die Visualisierung der Musik verschlafen hat, also genau die zehn Jahre, in der die MTV-Zeit erfunden wurde. 1981 haben wir eine Welttournee gemacht und danach, bis ich 1990 ausgetreten bin, nicht mehr Live gespielt. Das konnte ich mir einfach nicht leisten auf lange Sicht. Wie kann man als Musiker zehn Jahre nicht live spielen? Das habe ich nicht verstanden!
Der fehlende Erneuerungswillen, den Sie bemängeln, bezog sich also nicht auf den Sound von Kraftwerk?
Vor allen Dingen bezieht es sich darauf, dass man als Musiker etwas gibt in den Konzerten: Man teilt sich mit. 1986 war der Höhepunkt der Digitalisierung. Der Musikmarkt ist dann erst in den 90ern zusammengebrochen. Kraftwerk fingen 1990 wieder an, sporadisch live zu spielen. Aber die 80er-Jahre habe ich im Kling-Klang-Studio verbracht und gewartet. Damals warf die Tonträgerindustrie die großen Gewinne ab. Wenn man viele Platten verkaufte, hatte man es nicht nötig live zu spielen. Heute ist das genau andersherum, aber alle Bands, die sich in den 80er-Jahren auf uns beriefen, haben damals quasi permanent weltweit getourt. Wir nicht, weil wir unterschiedliche finanzielle Situationen hatten bei den einzelnen Mitgliedern von Kraftwerk.
War es für Sie nicht auch wichtig, eine Erneuerung des Klangs und der Musik bei Kraftwerk vorzunehmen?
Das ist ein sehr komplexes Thema. Es hatte natürlich auch mit dem Klang zu tun. Mitte der 80er-Jahre gab es überall neue, moderne Bands aus England und Amerika, die den elektronischen Klang globalisierten. Die haben das mit ihrer eigenen Kultur vermischt und teilweise wie in Hit-Fabriken plötzlich weltweit verkauft. Das Problem war, dass wir als Band damals zu sehr auf die Zeit geschaut haben, anstatt – und das ist jetzt ein ganz großes Wort – auf die Unendlichkeit, also auf die Zeitlosigkeit. Wir haben uns nicht mehr so sehr um die Musik gekümmert, sondern um deren Herstellungsweise. Aber Technologie löst keine Probleme auf unserer Welt, sie ist nur ein Mittel, ein Werkzeug. In den 70er und auch den 80er-Jahren hatte die Gesellschaft noch eine andere Vorstellung von Technologie und glaubte an deren positive Wirkung: Atomkraft sei sauber, hygienisch und schone die Umwelt. Oder die Raumfahrt – die Gesellschaft war sehr technologisch ausgerichtet. Und so war die elektronische Musik damals auch Teil dieses Gedankens. Ich glaube nicht, dass es in irgendeiner Form eine Rolle spielt, auf welchem Instrumentarium Musik hergestellt wird. Und mein Solo-Album ist natürlich Elektroakustik, aber die Bezeichnung hat für mich keine Bedeutung. Musik ist klingende Luft. Punkt. Wichtig ist doch die Wahrnehmung von Musik und dass sie mich etwas fühlen lässt.