Gemeinsam mit seinem dänischen Landsmann Lars von Trier gehört Thomas Vinterberg zu den Verfassern von „Dogma 95“, jenem Manifest, das von den Regisseuren verlangt, auf den Einsatz von Kamerastativen oder Licht zugunsten einer unmittelbaren Erzählweise zu verzichten.
Nach diesen Regeln drehte er 1998 „Das Fest“, der international für Aufsehen sorgte und in Cannes den Jurypreis bekam. Mit Sean Penn und Joaquin Phoenix drehte der Däne „It’s All About Love”, gefolgt von „Dear Wendy“ mit Jamie Bell. Nach einem künstlerischen Reinfall mit „Submarino“ vor sechs Jahren erzählte Vinterberg mit „Die Jagd" von einer modernen Hexenjagd auf einen Kindergärtner, dem sexuelle Belästigung vorgeworfen wird. Nach einem Ausflug ins Historiendrama mit "Am grünen Rand der Welt" folgt nun mit „Die Kommune“ ein Blick auf das WG-Leben in den 70-er Jahren. Mit dem Regisseur unterhielt sich [030] Mitarbeiter Dieter Oßwald.
Herr Vinterberg, inwieweit ist „Die Kommune“ eine Aufarbeitung Ihrer Kindheit?
Vinterberg: Ich wollte mit diesem Film auf alle Fälle meine Kindheit zeigen, und zwar die guten und die schlechten Seiten. Mir hat das Leben in der Kommune ausgesprochen gefallen, allerdings gab es auch unangenehme Aspekte. Mir war wichtig, ein aufrichtiges Bild zu zeigen, das sich vor Kontroversen nicht scheut.
Es überrascht, dass es in dieser Kommune kaum um Politik geht, es keine Drogen oder Orgien gibt. Waren die Dänen anders als die Deutschen?
Vinterberg: Mich langweilt Politik – und ich kann nicht über Dinge schreiben, die mich langweilen. Die ganzen politischen Diskussionen, die es damals gab, dienten ja nur dazu, sich dahinter zu verstecken. Mein Ansatz war es, ganz bewusst all jene Dinge wegzulassen, die man von einem Film über eine Kommune erwartet. Deshalb gibt es bei uns kaum Nacktheit, es gibt weder Cannabis noch Orgien. Ich wollte zum Kern der Figuren und zeigen, wie sich ein Individuum in der Gruppe verhält.
So völlig kann der Skandinavier allerdings nicht auf die Nacktheit verzichten: Irgendwann hüpfen alle gemeinsam unbekleidet in den See…
Vinterberg: Stimmt, das ist das ganz große Klischee in unserem Film (Lacht).
Verstehen Sie diese Kommune zugleich als Metapher für die dänische Gesellschaft, in der alles harmonisch zugehen und diskutiert werden soll, was jedoch an der Wirklichkeit scheitert?
Vinterberg: Beim Schreiben habe ich nie irgendwelche Metaphern im Kopf. Wenn man über Liebe, das Zusammenleben und den Tod schreibt, sollte man unbedingt alle analytischen Gedanken im Kopf ausschalten. Es wäre wirklich dumm, eine Geschichte mit irgendwelchen Vorgaben oder Absichten zu entwickeln. Wir zeigen einfach einen Mikrokosmos mit Emotionen – die Interpretationen bleiben dem Zuschauer überlassen. Wer den Mangel an Zusammenhalt in dieser Kommune als Sinnbild für das aktuelle Europa sehen möchte, wird sicher gute Gründe dafür finden.
Welchen Einfluss hatte das Leben in der Kommune auf Ihr Leben?
Vinterberg: Die Erfahrungen in der Kommune hatten enormen Einfluss auf meine Persönlichkeit und mein berufliches Leben. Ich musste sehr früh und schnell lernen, mit menschlichen Verhaltensweisen zurecht zu kommen. Man entwickelt ein gutes Gespür dafür, seine Mitmenschen einzuschätzen, etwa wenn sich neue Mitbewohner im Haus vorstellten. Mir lag damals viel daran, dass sich jeder möglichst wohlfühlt – was sich bis heute beibehalten hat, etwa bei Dreharbeiten.
War die Atmosphäre bei diesen Dreharbeiten ähnlich entspannt wie in einer Kommune?
Vinterberg: Es gab auf jeden Fall ein großartiges Gemeinschaftsgefühl bei diesem Dreh. Für die Proben haben wir drei Tage lang in diesem Haus zusammengelebt. Unsere Hauptdarstellerin Trine Dyrholm hat sich als echter Schatz erwiesen, mit ihr würde ich sofort in eine Kommune ziehen – was ich allerdings nicht von jedem im Team sagen würde. (Lacht)
Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf „Dogma“ zurück?
Vinterberg: Dogma war eine unglaublich kreative Sache. Wir hatten so viele Regeln, die wir uns selbst gegeben hatten, was ironischerweise dann zur Basis für eine große Befreiung wurde. Durch dieses ganze Regelwerk des Reduzierens wurde das Schreiben sehr viel einfacher – aber mittlerweile spreche ich eigentlich nicht mehr so gerne über Dogma und versuche das Thema zu vermeiden.
Wie ernst war Ihnen diese ganze Dogma-Sache denn? Hat Sie der ganze Rummel in Cannes nicht heimlich ziemlich amüsiert?
Vinterberg: Für mich war Dogma eine sehr gesunde Mischung aus unglaublicher Verspieltheit und großer Ernsthaftigkeit. Künstlerisch bot sich da schon eine neue Form von Inspiration – aber natürlich gab es da auch Arroganz und Eitelkeit.
Dogma war damals wichtig und hat sich inzwischen überlebt – gilt das ähnlich für Kommunen?
Vinterberg: Ich fürchte ja. Die Werte der 80-er Jahre haben sich gewandelt, heute wollen die Leute nicht mehr das Gemeinschaftsleben, sondern individuelle Freiheit und das Recht auf Privatheit. Ironischerweise beklagen sich viele über die große Einsamkeit – aber das ist der Preis, den man dafür zahlt. Wenn man seine Erlebnisse nur noch auf Facebook mit anderen teilt, hat das eben eine andere Qualität.
Stimmt Sie diese Entwicklung traurig?
Vinterberg: Ein bisschen macht mich das schon traurig. Wer nur noch einsam Pornos anschaut, als gemeinsam sexuelle Erfahrungen zu machen, der verpasst schon einiges.
Wie hat Ihre damalige Kommune auf den Film reagiert?
Vinterberg: Es war eine seltsame Erfahrung, meine damaligen Mitbewohner nach 20 Jahren zu treffen. Man realisiert schnell, dass die alten Zeiten unwiederbringlich vorbei sind. Jeder von uns hat sich stark verändert, man wird älter, begreift die Endlichkeit des Lebens und muss das irgendwie verarbeiten. Zudem erkennt man, wie schnell man doch durch andere Menschen ersetzt worden ist.
Wie der Held im Film haben auch Sie Ihre Frau durch eine jüngere Freundin ersetzt…
Vinterberg: Das stimmt und dafür fühle ich mich schuldig. Ich rate meinen Kindern, so etwas nie zu tun, wenn es dafür nicht sehr wichtige Gründe gibt. Für mich war dies der Fall, der Rest ist Privatsache. Im Film wollte ich mit dieser Trennung zeigen, dass das Leben vorwärts geht und man nichts ungeschehen machen kann.
Was machen Sie als nächstes?
Vinterberg: Mein nächstes Projekt wird eine filmische Hymne auf den Alkohol. Ich finde, es lässt sich viel erreichen durch Alkohol, aber er wird überall durch politische Korrektheit verteufelt. Ich werde hingegen zeigen, wie unverzichtbar Alkohol als gesellschaftlicher Faktor ist.
Da können Sie sich vermutlich auf einen hochprozentigen Shitstorm einrichten…
Vinterberg: Den Shitstorm habe ich bereits. Ich hatte auf der Berlinale öffentlich geäußert, dass ich mich schäme, Däne zu sein. Und zwar deshalb, weil unser Staat in den Medien von kriegsgeplagten Staaten mit vielen Flüchtlingen Inserate schaltet mit dem Inhalt, man möge doch lieber nicht nach Dänemark flüchten. Ich finde, aufgrund solcher Dinge habe ich ein Recht darauf, mich für meine Heimat zu schämen.