Nach der Auswahl in die Quinzaine des Réalisateurs von Cannes räumt Deniz Gamze Ergüvens "Mustang" weltweit bisher 24 Preise bei Filmfestivals ab. Die Krönung könnte am 28. Februar erfolgen, denn das Drama ist als bester fremdsprachiger Film des Jahres für den Oscar nominiert. „Mustang“ klagt anhand der Geschichte von fünf Schwestern eine ins hysterische über-sexualisierende Gesellschaft an, die Mädchen und Frauen jeden Raum zur Entfaltung nimmt.
Im Interview geht die 1978 in Ankara geborene Regisseurin, die seit ihrer Kindheit zwischen der Türkei, Frankreich und den USA hin und her pendelt auf die Besonderheiten des beeindruckenden Werkes ein, bezieht Stellung zur politischen Lage der Türkei und erklärt, warum der Film nicht in Istanbul spielen konnte…
Frau Ergüven, "Mustang" spielt scheinbar am Ende der Welt in der Mitte von Nirgendwo. Wie haben Sie diesen Ort gefunden?
Deniz Gamze Ergüven: Wir suchten tatsächlich einen Ort, der visuell aussah, wie das Ende der Welt! (lacht) Es sollte ein Ort sein, der nicht sofort zu identifizieren und mindestens 1.000 Kilometer von Istanbul entfernt ist. Dazu kamen viele ästhetische Anforderungen, die mehr als alles andere die Wahl beeinflussten. Das begann beim Haus, von dem man bestimmte Dinge aus sehen können musste, es brauchte einen Blick übers Meer genauso wie auf die Straße. Das erforderte ein ziemlich intensives Location-Scouting am Schwarzen Meer. Wir haben wirklich jedes einzelne dieser Dörfer besucht, bis wir dieses eine fanden, İnebolu war noch besser als das, was ich mir ausgemalt hatte. Die Natur dort wirkte pur und das Meer gefährlich. Die Architektur war sehr besonders. Aus all dem erwuchs der perfekte Ort. Aber es sollte zu aller vorderst aussehen, wie das Ende der Welt.
Sie erwähnen die 1.000 Kilometer Distanz, die zwischen dem Ort und Istanbul liegen mussten. Wie wichtig war es Ihnen, keinen Istanbul-Film zu drehen?
Durch diese Distanz entsteht eine Art horizontaler Mauer, über die die Mädchen springen müssen. Die Türkei ist alles andere als ein Land der Städte. Die beeinflussen das Bild der Türkei aber sehr. Natürlich gibt es sehr viele viel modernere Orte. In diesen Städten bist du mit dem Rest der Welt auch viel mehr verbunden. In Istanbul und Ankara trifft man auf sehr moderne Menschen, aber du hast genauso sehr traditionell lebende Menschen. Die Landregionen der Türkei sind dünn bevölkert, die Dörfer kaum bewohnt. In der Szene in der Hochzeitsnacht, in der Ece zum Krankenhaus muss, um zu beweisen, dass sie Jungfrau war, beruht auf einer Erzählung eines Arztes aus Ankara. Das passiert dort 40- bis 50-mal während der Hochzeitssaison – ist also nicht nur Realität der abgelegenen Dörfer.
Ihr Titel "Mustang" beschreibt sehr treffend die Mädchen in Ihrem Film. Wie werden die für Sie zu Mustangs?
Ein Mustang meint mythologisch jemanden ohne Herrn und Gebieter. Das passt sehr gut. Ich suchte nach etwas, dass die Mädchen und ihr Temperament beschreibt und ihre Stärke. Visuell haben mich die Haare der Mädchen an die von wilden Tieren erinnert. Schon im ersten Satz meines Drehbuch steht: Lale hat etwas von einem wilden Tier. Nur welches? Als sie durch die Straßen des Dorfs tobten und rannten, fühlte sich das nach einer Herde Pferde an, so kam ich zu Mustang. Danach empfand ich das als offensichtlich. Wenn ich mich umsah und ein Mädchen sah, das ich als Mustang bezeichnete, waren das Mädchen mit einem bestimmten Temperament.
An der Entwicklung von Lale, der Jüngsten, ist sehr interessant, dass sie sich emanzipiert, indem sie ihre Schwestern und deren Schicksale beobachtet, sie lernt nicht aus Büchern oder in der Schule. Liegt dem die Hoffnung auf Befreiung aus sich selbst heraus zugrunde?
Ich habe die Schwestern immer als eine Art fünfköpfiges Wesen gesehen. Im Lauf der Geschichte verliert dieses Wesen Körperteile, auf sehr schmerzhafte Weise, lernt aber Dinge zu adaptieren und zurückzuschlagen. Am Ende des Weges weiß man, was auf dem Weg dorthin alles verloren ging. Das ist zweischneidig. Als sie es zum ersten Mal versucht, scheitert sie noch an dieser 1.000 Kilometer langen Straße. Als Nesthäkchen vereint Lale in sich die Erfahrungen all derer, die sie am Weg hat Scheitern sehen. Sie ist die Frucht eines sehr speziellen Baumes. Sie ist immer Teil des Ganzen und nie ein isoliertes Element.
Eine Szene, die nachwirkt, ist sicherlich die, in der die Mädchen ihre Kleidung gegen diese sackartigen Teile tauschen sollen und aufbegehren…
Ja, diese formlosen, kackfarbenen Kleider. Sie schneidern an denen und machen etwas daraus. Das war so nicht im Drehbuch, das entstand, während wir die Szene entwickelten. Da habe ich es den Mädchen vorgeschlagen.
Wie schwer haben es Mädchen in der türkischen Gesellschaft?
Mit dem Film wollte ich dieses permanente Sexualisieren von Allem anprangern. Zum Beispiel die Szene, in der die Mädchen auf den Schultern der Jungs sitzen: Da wird nicht nur sexualisiert, sondern das auch noch sehr früh, in diesem jungen Alter. Es ist irgendwie immer da. Es gibt ein Beispiel, das ich da immer wieder gerne anbringe: Ein Schuldirektor hat verfügt, das Jungen und Mädchen nicht auf derselben Treppe gehen dürfen, weil was auch immer passiert, wenn du um 8 Uhr morgens in deinen Mathe-Unterricht gehst. Da ginge es um Sex – und damit sexualisieren sie alles. Das verengt die Perspektive sehr und führt dazu, wenn man das mal zu Ende denkt, dass Mädchen nichts mehr machen können. Sie dürfen das Haus nicht verlassen und müssen sich ständig versteckt halten.
Welche Rolle spielt bei dieser Beobachtung, dass Sie nicht mehr in der Türkei leben?
Das hat damit nichts zu tun. Ich stand immer zwischen den Ländern. Der Effekt ist eher der, dass ich nicht immer in dem Alltag drin stecke, aber wenn ich zurückkehre, fallen mir Dinge dafür umso stärker auf – und dieses Sexualisieren stört mich.
Es hilft in jedem Fall, aus einem System heraus zu treten, um Dinge zu beurteilen…
Aber das funktioniert in beide Richtungen. Schaue ich von der Türkei aus auf Europa und sehe in der Türkei zwei Millionen Flüchtlinge und gleichzeitig die Reaktion von Ländern, die sich schwer tun, 20.000 aufzunehmen, ist das für mich verrückt! Man kann doch nicht sagen, das existiert nicht oder das geht mich nichts an. Der Vorteil, zwei Kulturen in sich zu tragen, ist der, dass der eigene Referenzrahmen weiter ist.
Wie nehmen Sie die Türkei, die sich in den letzten zwei, drei Jahren sehr verändert, wahr?
Seit die AKP, also eine religiöse Partei, an der Macht ist, seit 2011, hat sich die politische Rhetorik verändert und seit 2013 deutlich radikalisiert. Von Anfang an war es unangenehm, dass in einem Land mit einer solch weltlichen Tradition religiöse Gruppen an Macht gewinnen. Anfangs gaben sie sich als Anpacker, die sich um alles kümmern, aber langsam nehmen sie die Maske ab. Die Türkei war immer besonders, da sie kulturell immer sehr nah an Europa und am Orient war. Das spürt man sehr stark. Gleichzeitig ist die Türkei ist ein sehr junges Land, sehr dynamisch. Jede Woche gibt es dort fünf verschiedene Geschichten, die mit der des toten Jungen am Strand mithalten können – aber international erreichen die keine Aufmerksamkeit. Das sind fünf Alpträume pro Woche. Was da über die verschiedenen Medien, auch Social Media, an die Oberfläche kommt, ist unglaublich intensiv.
Lässt sich das vergleichen, um es besser einzuordnen?
Aus L.A. kamen Ende 2015 die beiden unglaublichen rassistischen Vorfälle, diese Rodney King-Geschichte, mit dem Schwarzen, der verprügelt wurde und das junge Mädchen, das in einem Supermarkt getötet wurde. Auf dem Niveau haben wir jede Woche fünf. Dadurch verändert nicht ein großes Ding sofort die Agenda.
Interview: Denis Demmerle.