Liebe [030] Leser*innen,
am Sonntag, den 24. September, steht die Bundestagswahl an. Zugegeben: Als 1976er Jahrgang, der 1994 – im Gründungsjahr dieses Magazins – zu seiner ersten Bundestagswahl schritt, fällt es mir, wie vielen, mit denen ich mich darüber unterhalte, zunehmend schwerer, eine Wahl zu treffen. Mein subjektiver Eindruck: Es fehlt an Inspiration seitens der Parteien.
Ich wünschte mir eine Vision für die kommenden Jahre. Bildung, Digitalisierung, Stadtentwicklung, Zukunft der EU. Große Aufgaben stehen bevor, doch was hallt aus der Politik: Weiter so! (CDU); Etwas leiser: ein paar Änderungen hätten wir (SPD); Lauter: Wir sind wieder da, naja fast (FDP); Trotzig: Die anderen sind blöd (Die Grünen); Verbittert: Alles ist schlecht (Die Linke); National: Deutschland den Deutschen (AfD). Keine motivierende Ausgangslage.
Was tun?
Ich selbst ertappe mich in letzter Zeit dabei, Angela Merkel okay zu finden. Martin Schulz ist kein Schlechter, aber eine besonnene Frau als Gegenpol zu den testosterongesteuerten, nationalistischen Idioten wie Trump, Putin, Erdogan und Orban an der Macht hat aus meiner Sicht etwas für sich. Neben Merkels „Willkommenspolitik“ finde ich es gut, dass sie die Sandkastenspielchen der Jungs – „Du hast mir den Bagger geklaut, gib ihn wieder her oder ich schlage dich mit der Schaufel, Aua!“ nicht mitmacht. ABER: Ich mag die CDU nicht! Ich kann nicht verstehen, wie man diese Partei, zu denen ehemalige geistige Brandstifter wie Roland Koch und Jürgen Rüttgers („Kinder statt Inder“) sowie im erweiterten Sinne die CSU mit Horst Seehofer („Obergrenze, Obergrenze, wir wollen eine Obergrenze“) gehören, ernsthaft wählen kann. Eine bayrische Bauernpartei, die im Bund mitredet? Ohne mich. Da bin ich verbissen norddeutsch. Erstaunlicherweise gibt es aber genügend junge Menschen, die das vollkommen okay finden. 2013 errang die CDU immerhin die Mehrheit bei der U18 Wahl. Was ist nur los mit der Jugend? Fragte man sich da. Christliches Weltbild? Mit 21 heiraten, Haus bauen, Kind kriegen, erstmal zu Hause bleiben, zweites Kind und abends den Frust mit ner Flasche Rotwein intus von der Seele häkeln, während der junge Papa den schnellen Exit sucht und mit der…… ach, lassen wir das! Doch so sehr ich persönlich die CDU und ihr Weltbild ablehne, sie steht zu unseren demokratischen Grundwerten, hat diese über Jahre in Regierungsverantwortung mitgeprägt und, für Berliner vielleicht am Wichtigsten, die Wende, als verantwortliche Regierungspartei einigermaßen gut umgesetzt. Auch wenn natürlich nicht alles rund lief, im Nachhinein ist immer gut stinken. Diese historische Leistung hat meinen vollsten Respekt verdient!
Wo kein Graben, da kein Kampf
Ihr merkt schon, die klassischen Grabenkämpfe SPD vs CDU/CSU sind auch bei mir einem großen Konsens, in Form der Großen Koalition, gewichen. Alter macht milde. Oder wütend, aber dazu gleich mehr. Während bei meiner Erstwahl 1994 und Zweitwahl 1998 noch klare Kante herrschte („Kohl muss weg!“), ist es für die heutige Erstwähler-Generation nicht mehr ganz so einfach, einen leichten Treffer in der Wahlkabine zu landen. Milieus brechen auf und verschwimmen immer mehr zu einem unscharfen Etwas. Die großen Parteien gleichen sich immer weiter aneinander an (zumindest in der Wahrnehmung), während die kleinen zickiger werden, weil sie nichts vom Lolli abbekommen. Der ihnen eh nicht schmeckt. Große Visionen bleiben aus. Safety First. Aktuelles Mehrheitsgefühl: Der/Die Wähler*in ist im Großen und Ganzen zufrieden (mit wütenden Ausnahmen im Osten). Gähn/Empörung!
Und die jungen Wähler*innen?
16 Prozent der thüringischen und sächsischen Jugend haben sich bei der diesjährigen U18 Wahl für die AfD ausgesprochen. WTF! Kann man in Mittel- bis Dunkeldeutschland bitte mal ganz schnell die Schulen auf Vordermann bringen, geeignetes Lehrpersonal hinschicken, interessante Ausbildungsplätze schaffen, überhaupt Perspektiven vor Ort, um zu retten, was noch zu retten ist? Am Besten bei den Eltern anfangen. Irgendwo muss dieser AfD-Hirnschiss bei den Kids ja herkommen. Glücklicherweise ist mit 6,7% der bundesdeutsche Schnitt bei den U18-jährigen nicht ganz so hoch. Aber immerhin, den Einzug in den Bundestag wollen auch sie nicht verhindern. Es kann doch nicht sein, dass eine Partei, deren Vorsitzende am liebsten alle Ausländer und Nichtblutsdeutsche aus dem Land vertreiben möchte, kostenlose Verklappung in der türkischen Pampa inklusive, hierzulande überhaupt eine Stimme bekommt. Wer Protest gegen die Regierung wählen will, der kann sich vernünftigerweise eine der Kleinstparteien raussuchen. Gibt da einige Kandidaten mit hehren Zielen. Oder noch besser: Mit Humor wählen. Beispielsweise Die Partei. Menschen ohne Sinn für Leichtigkeit, aber mit einem Ansinnen für die aktuellen Fragen, wählen dann eben Die Piraten. Aber eine offen rechts gerichtete Ansammlung alter weißer Männer, Ewiggestriger und, nennen wir es beim Namen: Rechtsradikalen wählen? Was bitte ist das denn für ein Protest?! Da war Die Linke zu wählen durchaus geistreicher, denkt sich selbst der SPD Genosse von nebenan. Schrecklich, dass so etwas wie die AfD und deren rechtes Gedankengut überhaupt salonfähig geworden ist. Was ist nur mit euch Wutbürgern los? Alles und jeden, der nicht genauso borniert ist, wie man selbst, zur Hölle zu wünschen in der Hoffnung, es gehe einem anschliessend besser. Fahrt ihr dann entspannter zum Party machen nach Malle? Feiert bis der Arzt kommt und singt: „Ich hab ne Zwiebel auf dem Kopf, ich bin ein Döner!“? Armes Deutschland!
Strengt Euch an!
Ich meine damit nicht im Job. Es gibt Schicksalsschläge, die Menschen aus der Bahn werfen können. Für viele Menschen im Osten war es die Wende, die in der ehemaligen DDR keinen Stein auf dem anderen gelassen hat. Arbeitsplätze gingen verloren. Familien zerbrachen. Persönliche Dramen entstanden. Wenn man dem aktuell etwas gleichsetzen wollte, so ist es die Umwälzung der Arbeitswelt. Wir befinden uns inmitten der digitalen Industrialisierung. Natürlich müssen wir als Gesellschaft unbedingt etwas tun, um all jene, die auf der Strecke bleiben, weil sie nicht qualifiziert genug, zu alt oder krank sind, nicht alleine im Regen stehen zu lassen. Aber das geht nur, wenn man auch bereit ist, seinen Teil beizutragen. Sich immer nur zu beschweren, die Schuld auf andere, vermeintlich Schwächere zu schieben und am Ende darauf zu hoffen, dass andere für einen die Kohlen aus dem Feuer holen, ist eine recht einseitige Angelegenheit. Demokratie heißt sich beteiligen können. Jederzeit. Ob in einer Partei oder im Nachbarschaftstreff um die Ecke. Mitmachen und mitgestalten, statt sich beschweren, alles schlecht reden und jemanden mit einer anderen Meinung kaputt brüllen. Das hilft niemandem. Also, strengt euch an!
Seines Glückes Schmied
Am Ende ist jeder seines Glückes Schmied. Doch daraus abzuleiten, man müsse ein egoistisches Arschloch sein, das keine Rücksicht auf andere nimmt, ist die falsche Schlussfolgerung. Empathie und Mitmenschlichkeit müssen dafür nicht auf der Strecke bleiben. Auch wenn man das Gefühl hat, es gehe einem selbst schlecht. Es gibt immer Menschen, denen es noch schlechter geht. Die nicht in einem friedlichen Land wie dem unseren Leben. Aber man muss auch etwas dafür tun, um dieses positive Gefühl für sich zu entfachen. Strengt euch an! Spätestens mit 18 ist man aus dem Alter raus, wo einem alles von den Eltern und Lehrern vorgekaut wird. Niemand kann einem die wichtigen Entscheidungen im Leben abnehmen. Möchte man für etwas oder immer nur gegen etwas sein? Um sich eine Meinung zu bilden muss man sich selber ein Bild machen. Hörensagen ist dafür nicht ausreichend. Damit macht man es sich zu einfach. Warum zum Beispiel nicht etwas Zeit investieren und die Wahlprogramme lesen statt auf sein Smartphone zu starren? Warum nicht mal zu einer Wahlveranstaltung gehen und zuhören, statt blöd dazwischen quatschen? Wähler sein und wählen dürfen, heißt auch Verantwortung tragen. Nicht nur für sich und seine Belange, sondern auch für die Gesellschaft, in der wir leben. Vor allem als Vorbild für andere Gesellschaften, in denen man keine Wahl hat und es auch nicht so einfach ist, sein Leben nach seinen Vorstellungen zu leben. Wir haben den Luxus, in einer offenen und friedlichen Gesellschaft zu leben. Lasst uns das teilen, statt uns dahinter zu verbarrikadieren. Eine neue Mauer brauchen wir nicht. Hatten wir. War Scheiße! Also macht was draus! Am 24. September wählen gehen!
Im Namen der [030] Redaktion
Tim Schäfer