Nach der Shoah stand das Judentum in Deutschland vor einem fundamentalen Neuanfang. Die traditionelle deutsch-jüdische Kultur war ausgelöscht, und neue jüdische Gemeinden mussten aus den Trümmern entstehen – oft getragen von osteuropäischen Überlebenden ohne tiefere Bindungen an die deutsche Gesellschaft. In Die erfundene Gemeinschaft beleuchten renommierte Autor*innen, wie jüdisches Leben in den Nachkriegsjahrzehnten politisch gefördert, kulturell gestaltet und schließlich durch russischsprachige Einwanderung diversifiziert wurde. Der Sammelband hinterfragt die Rolle jüdischer Institutionen in der deutschen Erinnerungskultur und zeigt, wie eng Judentum, Politik und nationale Identität verflochten sind.
“Die erfundene Gemeinschaft. Erinnerungspolitik, Staat und Judentum in Deutschland” ist ein von Y. Michal Bodemann herausgegebener Sammelband, der die Entwicklung und Transformation jüdischen Lebens in Deutschland nach der Shoah untersucht. Die Beiträge beleuchten, wie sich nach 1945 neue jüdische Gemeinden formierten, hauptsächlich bestehend aus osteuropäischen Überlebenden, die kaum soziale und kulturelle Bezüge zur deutschen Gesellschaft hatten. Der Zentralrat der Juden spielte hierbei eine zentrale Rolle, indem er die Integration dieser Gemeinden unterstützte und zugleich die deutsche Erinnerungspolitik beeinflusste. Mit der russischsprachigen Einwanderung ab 1990 entstand eine vielfältige jüdische Kultur, die sich deutlich vom bisherigen Nachkriegsjudentum unterschied. Die Autor*innen analysieren, wie die jüdische Gemeinschaft zur Legitimation der deutschen Politik und nationalen Identität beiträgt. Dabei wird sowohl die historische Kontinuität, etwa durch die 1700-Jahr-Feiern, als auch die enge Anbindung jüdischer Institutionen an den Staat kritisch hinterfragt. Der Band versammelt Beiträge von Sandra Anusiewicz-Baer, Y. Michal Bodemann, Joseph Cronin, Max Czollek, Darja Klingenberg, Armin Langer und Jannis Panagiotidis. Sie thematisieren die Konstruktion des Judentums in Deutschland und untersuchen das Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus.
Konstruktion oder Realität?
Jüdisches Leben und deutsche Identität
“Die erfundene Gemeinschaft” bietet eine tiefgehende Analyse der jüdischen Geschichte und Gegenwart in Deutschland. Der Sammelband regt zur Reflexion über die Rolle des Judentums in der deutschen Erinnerungskultur und Politik an und ist für Leser*innen mit Interesse an jüdischer Geschichte, Soziologie und Erinnerungspolitik von großem Wert. Y. Michal Bodemann, Professor für Soziologie an der University of Toronto, hat zahlreiche Veröffentlichungen zur klassischen Soziologie und über deutsch-jüdische Beziehungen verfasst. Auf Deutsch erschien unter anderem “Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung” (1996). In “Gedächtnistheater” untersucht Bodemann die jüdische Gemeinschaft und ihre Konstruktion in Deutschland. Er analysiert, wie jüdisches Leben in der deutschen Gesellschaft wahrgenommen und dargestellt wird, und beleuchtet die Wechselwirkungen zwischen jüdischer Identität und deutscher Erinnerungskultur. In “In den Wogen der Erinnerung. Jüdische Existenz in Deutschland” setzt Bodemann seine Analyse fort und beleuchtet wesentliche Aspekte der “negativen Symbiose” (Dan Diner) jüdischer Existenz in Deutschland. Er thematisiert die Schwierigkeiten der “displaced persons” in den Nachkriegsjahren, die deutsche Nicht-Vergangenheitsbewältigung, die Entwicklung der jüdischen Gemeinden sowie die Wandlungen in der deutschen Aufarbeitung der Geschichte bis hin zur Walser-Bubis-Debatte und den Diskussionen um das Holocaust-Mahnmal in Berlin.
“Die erfundene Gemeinschaft” ist eine umfassende und kritische Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Judentums in Deutschland nach 1945. Der Sammelband ist eine wertvolle Lektüre für alle, die sich für jüdische Geschichte, Soziologie und die deutsche Erinnerungskultur interessieren.
Y. Michal Bodemann (Hg.)
DIE ERFUNDENE GEMEINSCHAFT
Broschur, 384 Seiten, 24 €
ISBN 978-3-95732-571-6