Heuzutage religiös zu leben bedarf Geduld, starkes Selbstbewusstsein und langanhaltende Konsequenz. Saras R. Alltag sah bis vor zwei Jahren ähnlich aus wie jeder andere. Chaotisches WG Leben, zahlreiche Dates bis hin zu wilden Partynächten. Typisches Studentenleben eben, bis sie sich entschied religiös-jüdisch zu leben.
Die 26-jährige Pharmaziestudentin befolgt nun strenge Kleidervorschriften, isst koscher und lässt kein Gebet aus. Warum sie sich dafür entschied und wie ihr Umfeld darauf reagiert erzählt sie [030] Autorin Maria im Treptower Park.
Was bedeutet Judentum für dich?
Judentum steht meist für Religion, aber ich sehe darin auch Geschichte, Philosophie, Psychologie, Kultur, Tradition, Kunst, und vor allem einen bestimmten Lebensstil, der sich von allen anderen unterscheidet. Das Judentum wird nach den jüdischen Regeln (sog. Halacha) von der Mutter übertragen. Daher wird man damit schon geboren. Ob man es religiös oder nicht religiös auslebt – man ist und bleibt Jude. Womit ich oft im Umfeld konfrontiert werde, ist, dass das Judentum nicht nur als Religion sondern auch Nationalität und Zugehörigkeit gilt. Das wissen viele nicht. Ich persönlich finde es wichtig, dass man jüdisch lebt. Religiös aber auch vom alltäglichen Lebensstil.
Woher kam die Veränderung religiös zu werden?
Es kam eigentlich von ganz alleine. Je mehr ich mich damit beschäftigt habe, desto mehr habe ich Themen gefunden, in der meine persönliche Meinung zu Themen mit der des Judentums übereinstimmt oder die mich sofort überzeugt haben. Müsste ich es runter brechen auf die eine Sache, die mich am meisten überzeugt hat dann, dass es alle Menschen miteinschließt: in seiner Idee, Rasse, Hautfarbe, etc.. Es ist nicht nur wichtig ob ein Mensch gut oder schlecht ist. Obwohl das Judentum in Juden und alle anderen Völker unterscheidet (Nicht-Juden), gilt diese Unterscheidung für die jeweilige Pflicht Gebote einzuhalten. Juden halten 613 Gebote ein, Nicht-Juden nur 7. In der nächsten Welt, einer perfekten Welt, werden alle Toten wiederauferweckt und allen Menschen geht es gut, also auch den Nicht-Juden, sofern sie sich an die 7 Gebote gehalten haben, und solche Juden, die sich an ihre Pflichten gehalten haben. Ich finde diese Sicht fair und sie zeigt, dass jeder eine andere Funktion hat auf dieser Welt, aber das alle zu einem großen Ganzen gehören.
Wie sehr hast du dich verändert und warum?
Ich denke die größte und sichtbarste Veränderung war, dass ich mich angefangen habe nach den jüdischen Kleidungsvorschriften zu kleiden. Diese sind Teil des Konzeptes von "Tznuis" oder "Tzniut". Es beinhaltet, dass Frauen keine Hosen tragen. Kleidung muss knielang sein und die Ellenbogen müssen bedeckt sein, kein Ausschnitt Am Anfang war es sehr schwer für mich, da ich es gewohnt war viel Wert darauf zu legen, wie ich aussehe und was für Kleidung ich trage. Es war für mich damals wichtig, dass ich "gesehen" und "auffalle" so traurig das klingt. Deshalb war es am Anfang schwierig für mich weil ich das Gefühl hatte ich sehe langweilig aus oder niemand würde mich beachten. Ich habe den falschen Akzent gesetzt. Mir war es wichtig, dass ich mehr "aussehe" als das was ich "bin". Ich weiß noch, dass es ein Schockmoment war, als eine alte Freundin noch vor einigen Jahren zu mir meinte unser Freundeskreis würde meinen freizügigen Stil so gut finden. Möchte ich, dass Menschen mich so sehen? Ist es das erste was denen über mich einfällt? Diese "ich bin"- Aspekte werden übertönt von "Ich sehe aus"- Aspekten. Ich wollte, dass die Menschen die Gelegenheit bekommen mich "zu sehen wie ich bin" und nicht "mich zu sehen wie ich aussehe", in Kombination mit deren schnellen Vorurteilen. Menschen sind einfach extrem oberflächlich. Wenn wir Haut sehen, dann werten wir automatisch über die Person. Ich habe es selbst erlebt, ich merke, dass ich von meinem Umfeld ganz anders wahrgenommen werde. Tzniut gilt auch für Männer übrigens. Es geht dabei auch um formal auszusehen, dass die Menschen nicht abgelenkt sind von Attributen eines Körpers und so ihre Oberflächlichkeit ausgetrickst wird. Es geht dabei weniger um verhüllen, ich bekomme seitdem mehr Komplimente als vorher. Ich kann meinen Kleidungsstil genauso ausleben wie vorher, mich schminken bis hin zu Haare glätten, statt Mini trage ich nun Maxiröcke und statt engen Tops mit Ausschnitt eine Bluse. Anfangs hatte ich Angst, dass ich hässlich aussehen würde, aber das absolute Gegenteil war der Fall! Zudem bekomme ich mehr Komplimente über meine Art, was mich mehr freut als wenn man mir sagt ich sehe "heiß" aus.
Das klingt alles sehr positiv.
Ja, die Veränderungen die das Judentum in meinem Leben hervorgebracht hat, die Lebensweise, der Kleidungsstil war alles nur zu meinem Vorteil, und deshalb kann ich auch nicht mehr ohne. Alle anderen Veränderungen wie die Gebete musste ich lernen, ich musste mich ernsthaft damit beschäftigen um zu verstehen wofür ich das eigentlich mache, das ist sehr komplex was man von außen wahrscheinlich nicht verstehen würde. Kosher essen und Shabbat einhalten genauso. Zuerst ist es ein langer und anstrengender Lernprozess, dann die konsequente Anwendung und mit der Zeit entsteht dann der Effekt der Bereicherung. Shabbat zum Beispiel findet am Freitag Abend und den gesamten Samstag statt und wird als Anlass genommen, um Zeit mit den Freunden, der Familie zu verbringen. Man zieht sich schick an und isst zusammen. Man arbeitet nicht, schaltet alle technischen Geräte aus, spricht nicht über die Arbeit. Es ist ein Ruhetag. Ich persönlich, sehe es als unglaubliche Bereicherung. Ich studiere Pharmazie und wenn ich täglich bis in die Nacht mit meinem Laptop und tausend Büchern um mich rum in der Bib lernen muss, weiß ich, dass bald Shabbat ist und ich so wieder Energie tanken kann. Ein Tag, an dem ich mir Zeit für mich, meinen Freund / Freunde / Familie nehme und nicht über Erledigungen, Stress und Uni denken muss. Ein Tag, an dem ich mein Handy ausschalten und zu 100 % die Zeit mit meinen nahestehendsten Mitmenschen genieße.
Warum denkst du wird Religion als Einschränkung wahrgenommen?
Religion wird deshalb als Einschränkung wahrgenommen weil der Gegenentwurf Freiheit ist. Freiheit im Sinne von: nicht gegen geltende Gesetze zu verstoßen. Alles was nicht illegal ist, ist erlaubt. So wirkt es manchmal auf mich. Deshalb ist es natürlich für Menschen die Freiheit als oberstes Gut sehen, nicht begreifbar weshalb man sich "ein Stück Freiheit" weggenehmen lassen möchte. Aber so frei ist man heutzutage nicht mehr wirklich, weil der gesellschaftliche Druck so hoch ist. Man muss dieses oder jenes Handy haben, diese oder jene Schuhe tragen. Diese ganzen Regeln gelten nicht für mich, nicht mehr, und ich habe mich auch dadurch zum ersten Mal richtig frei gefühlt.
Wie haben deine Familie / deine Freunde auf die Veränderung reagiert?
Am Anfang war es schwierig. Ich hab gemerkt, dass für einige es doch zu einem Problem geworden ist. Mein ehemaliger Freund hat sich dafür interessiert, versucht Rituale wie das Kiddush an Shabbat mit zu machen. Größtenteils der Freunde habe ich eigentlich verloren, es wurde für viele zu umständlich, ich habe gemerkt, dass sie nicht wirklich Verständnis dafür aufgebracht haben. Kein Verständnis, dass ich an Shabbat auch an Treffen mit Freunden mein Handy ausgemacht habe. Viele sehen es dann als Stress, dass man sich dann spontan nicht mehr absprechen kann. Ich glaube, dass es denen zu umständlich mit mir wurde und dann habe ich automatisch die Freundschaft aufgegeben, weil sie mir nicht den Respekt entgegengebracht haben den ich mir gewünscht habe. Es ist aber kein Verlust, ich habe jetzt tatsächlich mehr jüdische Freunde.
Welchen Reaktionen begegnest du in deinem Alltag? Ist es schwer deine Religion frei auszuüben?
"Es gibt viele verschiedene Reaktionen und es kommt sehr auf die andere Person an. Sehr viele Menschen begegnen mir positiv, Menschen, die vielleicht selber Interesse an Spiritualität haben. Andere, welche Spiritualität ganz ablehnen, reagieren dementsprechend. Bezüglich meines Kleidungsstils gab es keine negativen Reaktionen, vielen ist es nicht aufgefallen. Auch neuen Menschen fällt es nicht wirklich auf, weil ich quasi immer so aussehe wie jemand der im Büro arbeitet wo auch Kleidungsvorschriften gelten. Ob Religion einfach auszuleben ist oder nicht hängt ganz vom Umfeld ab. Im Kreis von Gleichgesinnten ist es natürlich sehr einfach. Zwischen Religionsgegnern schwierig. Grundsätzlich kann sich jeder in Deutschland entfalten – würde ich behaupten. Man muss nur wissen wie und wo.
Text: Maria Murnikov